Eröffnungsspiel der Fußball-WM:Weltklasse im Dahinsinken

Eröffnungsspiel der Fußball-WM: Und dann die Hände zum Himmel: Brasiliens Fred fällt (re.)

Und dann die Hände zum Himmel: Brasiliens Fred fällt (re.)

(Foto: AP)

Ein Sieg, der Fragen aufwirft: Der Auftakt der WM geht für Gastgeber Brasilien gerade nochmal gut, weil die Seleção gegen Kroatien von einem bizarren Elfmeter-Geschenk profitiert. Die Kroaten wittern eine Verschwörung.

Von Jonas Beckenkamp

Dagegen konnte die extra eingeflogene J-Lo einpacken. Was die amerikanische Popo-Schwingerin bei der Eröffnungsfeier an biederem Liedgut dargeboten hat, wurde wenige Minuten vor dem ersten Anpfiff dieser Fußball-WM von einem brasilianischen Nationalchor ins Nirwana geschmettert. Die Seleção war zum Hymnensingen angetreten. Mit ihr brüllten 60.000 kanariengelb gewandete Fans im Stadion von São Paulo.

David Luiz schaute drein, als könne er alle elf Kroaten alleine zurück in den Flieger jagen, Thiago Silva plärrte jede Silbe lautstark hinaus, Júlio César kullerten ein paar Tränchen aus den Augen. Eine Hymnendebatte ums mangelnde Mitgrölen wie hierzulande droht dem WM-Gastgeberland nicht. Und wer war nochmal diese J-Lo?

Zumindest beim Singen waren die Brasilianer eindeutig überlegen. Was ihren sportlichen Vortrag auf dem Rasen betrifft, bleibt nach dem 3:1 (1:1) gegen Kroatien die Erkenntnis: Na ja. Zugegeben, es gibt einfachere Aufgaben, als vor den Augen einer ganzen Nation die Premierenfeier erfolgreich zu gestalten. Aber was der Turnierfavorit dann stellenweise aufführte, war wenig überzeugend.

Der stolze Champions-League-Sieger Marcelo von Real Madrid hatte sein Team mit dem ersten Eigentor (11. Minute) der brasilianischen WM-Historie ins Wackeln gebracht. Es zeigte sich bald, wie sehr die riesigen Erwartungen eine Gruppe Hochbegabter lähmen können. Brasilien spielte wie ein Debütanten-Ensemble, dem ordentlich die Muffe ging, Kroatien spielte wie ein ungebetener Partycrasher. Diese Rollenverteilung stellte zunächst alles auf den Kopf. Eine Auftaktpleite wäre für die Seleção das größte anzunehmende Drama gewesen. Welch Glück, dass immerhin einer in Gelb seine Qualität bewies: Neymar.

Erst vollstreckte der 100-Millionen-Mann vom FC Barcelona nach einem Sololauf mit links zum 1:1 (29.), dann zitterte er einen Strafstoß zum 2:1 ins Tor (71.). "Meinen Spielern muss ich ein großes Kompliment machen. Sie hatten so großen Druck, dann bekommen sie auch noch dieses Tor, aber sie haben das Spiel auf eine großartige Weise umgebogen", erklärte Trainer Luis Felipe Scolari, der kurz vor Ende sogar noch das 3:1 durch Oscar bejubeln durfte.

Ob die Wiederauferstehung der Brasilianer wirklich so eine herausragende Leistung darstellte, ist fraglich. Es brauchte schon ein groteskes Elfmeter-Geschenk des japanischen Unparteiischen Yuichi Nishimura. Vor dem 2:1 zauberte Stürmer Fred im Zweikampf mit dem kroatischen Verteidiger Dejan Lovren eine Art Stand-Schwalbe auf die Wiese, die er sich als Slapsticknummer patentieren lassen könnte. Lovren hielt sein Gegenüber sauber in Schacht, Fred sank darnieder, dann pfiff Nishimura - und befeuerte Verschwörungstheoretiker aller Art.

Er sei ein Sportsmann, jemand, der normalerweise nie die Schiedsrichter kritisiere, sagte der kroatische Trainer Niko Kovac. Aber der Elfmeter sei "lächerlich" gewesen: "Wenn das einer war, wird es bei dieser WM 100 Strafstöße geben, dann sind wir bald im Zirkus." Und weil er schon dabei war, sprach der langjährige Bundesliga-Profi aus, was viele bereits im Vorfeld gedacht hatten: Dass die Brasilianer auf heimischem Terrain im Notfall auch mal einen Pfiff mehr bekommen. Er habe es "irgendwie erwartet", sagte Kovac und ergänzte ohne Umschweife: "Es hat damit zu tun, dass wir als Erste gegen Brasilien spielen mussten."

"Erstklassige Schweinerei!"

Kovacs Worte fanden bei der Pressekonferenz Gehör. Die Fifa-Funktionäre drückten sich die Kopfhörer fest auf die Ohren, um bei der Übersetzung jedes Wort zu verstehen. Die Nachricht war klar: Die Kroaten fühlten sich verschaukelt. Es war ja nicht nur der Elfmeter.

Neymar "hätte wegen einer Tätlichkeit Rot sehen müssen", sagte der frühere Schalker Ivan Rakitic: "Und das beim Stande von 0:1. Und dann hätte ich mal sehen wollen, ob sie es in Unterzahl geschafft hätten, uns zu schlagen. So steht am Ende nur das Ergebnis, und in ein paar Jahren weiß keiner mehr, wie es zustande gekommen ist."

Auf der gegenüberliegenden Seite folgte der Diskurs einer anderen Linie. "Ich habe die Szene jetzt zehn Mal gesehen, und ich bin sicher, es war ein Elfmeter", berichtete Scolari, dann sagte er: "Außerdem ist der Schiedsrichter derjenige, der entscheidet, und er hat es auch so gesehen." Immerhin, den Ärger gestand er seinem Kollegen Kovac zu: "Als gegnerischer Trainer hätte ich dasselbe gesagt."

Die kroatischen Medien regen sich am Tag danach herzhaft auf. "Der Elfmeter war geschenkt", kritisiert tportal.hr an diesem Freitag. "Der große Raub! Was für eine erstklassige Schweinerei", echauffiert sich Jutarnji list. Das Portal sportski.net.hr lässt die fragliche Spielszene gleich als Video-Dauerschleife laufen. Viele Stimmen fallen noch drastischer aus. "Der japanische Killer hat in den Rücken von Niko Kovac geschossen", schimpft die Zeitung Novi list. Kovac selbst hatte noch in der Nacht nachgelegt.

"Wir haben zwei Jahre dafür gekämpft, hier zu sein, und dann so was", klagte er und unterstellte dem Weltverband, einen unfähigen Schiedsrichter ausgesucht zu haben: "Es ist klar, dass bei Kroatien gegen Brasilien kein Europäer und auch kein Südamerikaner pfeifen kann. Aber wenn dieser Schiedsrichter es nicht kann, dann muss es eben ein anderer machen. Ein Spiel mit Weltklasse-Spielern hat auch einen Weltklasse-Schiedsrichter verdient."

Hohes Niveau erreichten an diesem Abend tatsächlich mehrere Akteure. Bei den Kroaten stellte Ivica Olic einmal mehr seine Marathon-Lunge unter Beweis, während Rakitic die Offensive seiner Mannschaft umsichtig orchestrierte. Bei den Brasilianern lieferte Luiz Gustavo jenseits des jogo bonito eine aufmerksame Vorstellung ab, zudem rechtfertigte neben Neymar vor allem Oscar seine Nominierung. "Glanz zweier Helden," titelt die Tageszeitung O Globo, um sich dann ausführlich den Großtaten der jungen Offensivkünstler zu widmen. Über den Elfmeter-Streit und das Gesangstalent von J-Lo ist nichts zu lesen.

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