Entwicklung im Fußball:Zackzack statt Klickklack

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Hohepriester des Tiki Taka: Andrés Iniesta (l.), Lionel Messi und Xavi (r.) im Jahre 2011. (Foto: Toni Albir/dpa)
  • Bundestrainer Joachim Löw ist ein Anhänger des Ballbesitzfußballs nach spanischem Vorbild.
  • Bei seiner WM-Analyse macht er aber klar, dass er es mit seiner Idee vom schönen Spiel übertrieben hat, es sei "fast schon arrogant" gewesen.
  • Die Frage ist: Kann sich der Ästhet Löw in der neuen Kultur des pragmatischeren Fußballs zurechtfinden?

Von Klaus Hoeltzenbein

Ballbesitz! Das ist ja eigentlich etwas sehr Positives, weil es bedeutet, dass man das Wichtigste zu eigen hat: den Ball. Noch ist diese hehre Idee zwar nicht auf der Müllhalde des Fußball-Historie entsorgt worden, das wäre Verrat an einer großen Epoche. Aber zumindest hat Bundestrainer Joachim Löw sie wohl doch umgetopft, hat sie übereignet an einen Ort wie das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund. Dort hat diese Ballbesitz-Idee ja schon ihr Eckchen, in dem an die Nächte von Rio, den WM-Gewinn 2014, erinnert wird. Und jetzt wird dort vielleicht ein bisschen umdekoriert, kommen ein paar frische Löw-Sätze an die Wand.

"Das war meine allergrößte Fehleinschätzung, mein allgrößter Fehler", hatte Löw auf seiner verspätete Bilanz-Pressekonferenz zur WM 2018 begonnen, die Züge einer Selbstgeißelung enthielt. Falsch sei gewesen, "dass ich geglaubt habe, mit diesem dominanten Spiel, mit diesem Ballbesitz, dass wir da zumindest durch die Vorrunde kommen". Der Versuch der Titelverteidigung geriet zum Trauerspiel: 0:1 gegen Mexiko, 2:1 gegen Schweden, 0:2 gegen Südkorea. "Das war fast schon arrogant", geißelte Löw: "Ich wollte das auf die Spitze treiben und noch mehr perfektionieren. Ich hätte die Mannschaft schon vorbereiten müssen auf eine etwas stabilere, sichere Spielweise."

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Löw kam zu spät, trotz alarmierender Testresultate hatte er nicht wahrhaben wollen, dass seine langjährige Strategie decodiert war. Er hatte die jüngsten Erkenntnisse des Klubfußballs nicht auf sein Nationalteam übertragen. Hatte nicht berücksichtigt, dass sich auch der Fußball den gesellschaftlichen Realitäten anpasst; dass die Träumer ermattet waren, und die Pragmatiker die Regie übernommen hatten. Exemplarisch zu beobachten in Spanien, wo der Ballbesitz-Fußball moderner Prägung beim FC Barcelona erfunden wurde. Der Pragmatismus von Real Madrid hat dort inzwischen Barças Illusionisten abgelöst, Cristiano Ronaldo konnte zumindest auf internationaler Bühne Lionel Messi beerben. In der Champions League, dieser Mustermesse des Weltfußballs, dominierte zuletzt drei Mal in Serie Real Madrid, drei Mal war für Barcelona schon im Viertelfinale Schluss. Lionel Messi dribbelt immer noch eindrucksvoll, aber der Zauber des Unwiderstehlichen ist gebrochen.

Barças Ballbesitz-Fußball war stets wie ein offenes Buch. Trotzdem schien es lange kein Gegenmittel zu geben. Klick, klack, klick, klack - im von Messi inspirierten Kurzpass-Spektakel gingen die Gegner unter. "Der Ball wird nicht müde", lautete jene Formel, nach der der niederländische Trainer Johan Cruyff dem FC Barcelona (von 1988 bis 1996) sein heute als Tiki Taka bekanntes Programm implantiert hatte. Perfektioniert von Trainer Pep Guardiola um Messi und dessen kongeniale Partner Xavi und Iniesta. Ohne das Duo kam Messi nicht so gut zurecht, mit Argentinien scheiterte er meist früh bei großen Turnieren. Spanien aber dominierte ohne den Meister - Europameister 2008, Weltmeister 2010, Europameister 2012! Nur Messi, 31, ist heute bei Barça noch dabei; Xavi, 38, kickt in Katar, Iniesta, 34, jetzt in Japan. Das Trio bleibt einmalig, seine Fußball-Kunst wird durch künstliche Intelligenz nicht mehr reproduzierbar sein.

Die "Ochsenabwehr" als Sicherheitselement

Löw hat den FC Barcelona nicht nur bestaunt, er war der größte Fan. Aber in seinem Plan, die verblüffende Präzision des Passspiels auf die deutsche Nationalelf zu übertragen, war er 2014 sehr viel weiter als zuletzt. So streute er damals in seine Offensivgedanken, die sich an den technischen Fähigkeiten von Toni Kroos und Mesut Özil orientierten, diverse Sicherheitselemente ein. Der beste Beleg ist jene "Ochsenabwehr" von 2014, die Höwedes, Boateng, Hummels und zu Beginn auch Mertesacker bildeten. Bis zum Finale wartete Löw zudem auf den zuvor verletzten Bastian Schweinsteiger, dem dann das Spiel seines Lebens gelang. Schweinsteigers getackerte Platzwunde unterm Auge wurde zum Symbol: Dafür, dass Ballbesitz allein zum Selbstzweck wird - für die großen Siege braucht es sehr viel mehr.

Schaut man sich Löws Zukunftskader an, den er am Mittwoch präsentierte, so wird man nicht recht schlau daraus. Auf "grundsätzliche Veränderungen", die nach der WM versprochen waren, hat er verzichtet. Stattdessen wurden fürs erste Länderspiel am Donnerstag in München gegen Frankreich gleich sieben gelernte Innenverteidiger nominiert. Daraus ließen sich mehrere Ochsenabwehren bilden, aber was passiert davor? Nicht einen gelernten defensiven Mittelfeldspieler führt Löw im neuen Sortiment - Sami Khedira, der Weltmeister, wurde nicht mehr nominiert, auch Sebastian Rudy ist nicht dabei. Und dies, obwohl Rudy einen tapferen 31-Minuten-Einsatz gegen Schweden in seinem persönlichen WM-Protokoll stehen hat, bis ein Nasenbeinbruch ihn stoppte.

Dort jedoch, im Mittelfeld, war bei der WM die größte Sicherheitslücke. Auf der Sechserposition, auf der die deutsche Nationalelf mit Turnierspielern wie Matthäus und Buchwald (WM 1990), Dieter Eilts (EM 1996) oder eben Schweinsteiger historisch meist prägend besetzt war, gibt es jetzt ein großes Rätsel. Denn über diese Position definieren sich in der Post-Ballbesitz-Ära viele Mannschaften. Toni Kroos, den aktuell einzigen deutschen Weltklassespieler, wieder dorthin zurückzuziehen, wäre ein Luxus, den sich Löw kaum leisten kann. Kroos gehört weiter nach vorne, gerade jetzt, da Özil, sein Partner, sich zurückgezogen hat. In dieser wesentlichen Statikfrage gibt es nicht mehr viele Optionen: Leon Goretzka oder Ilkay Gündogan könnten nach hinten beordert werden; oder Joshua Kimmich, der 23-Jährige mit Chefpotenzial, rückt von der Außenbahn nach innen. Die Lösung mit Kimmich als Staubsauger, als Türsteher vor der Abwehr, hatte mancher dem Bundestrainer schon zur WM einzuflüstern versucht. In dieser Rolle darf Kimmich jedoch nicht einmal beim FC Bayern ran, dabei entspricht sie ausdrücklich seinem Berufswunsch.

Löw muss sofort Lösungen präsentieren. Denn das erste Länderspiel ist kein Test; der Wettbewerb ist neu, wurde Nations League getauft, er soll jene Testspiele ersetzen, in denen sich die Profis schonten und das Publikum sich langweilte. Frankreich wird in weltmeisterlicher Besetzung antreten. Zweiter Gruppengegner sind die Niederlande, der Rivale, der für die WM nicht qualifiziert war und einiges klarstellen will. Frankreich und die Niederlande - es wird ein heißer Herbst. Geht es schief, steht der Löw-Posten erneut zur Debatte, verbunden mit der Frage, warum der Vertrag schon vor der WM vorschnell bis 2022 verlängert worden war.

Löw, 58, hat im fortgeschrittenen Traineralter jetzt einen Stilwechsel versprochen. Er hat seine Idee vom schönen Eigentums-Fußball für nicht mehr zeitgemäß erklärt, sicher auch, weil ihm im Neuaufbau Feinfüßler wie Özil, Götze, Lahm fehlen. Überhaupt dominieren heute die Athleten, es gibt nicht mehr gar so viele Talente, die jene Präzision im Fuß haben, die für den ewigen Ballbesitz erforderlich ist.

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Will trotzdem jemand die Idee aufgreifen, um mit ihr große Trophäen zu gewinnen, wird es teuer. Pep Guardiola versucht es wieder bei Manchester City, nur gibt es halt keinen neuen Messi. Das Investitionsvolumen, um dort Tiki Taka umzusetzen, nähert sich der Milliarde. Guardiola gewann mit Barcelona zweimal die Champions League (2009, 2011), beim FC Bayern (2013 bis 2016) arbeitete er an einem ähnlichen Projekt. In München erzählt man sich bis heute die Geschichte, wie er und Thomas Tuchel in der Schumann's Bar mit Salz- und Pfefferstreuer taktische Formationen nachstellten und Wunschträume diskutierten. Jetzt sind diese beiden fast die Einzigen - Guardiola in England, Tuchel in Paris - die sich, finanziert mit Geld aus Katar und Abu Dhabi, dem Mantra vom Ballbesitz weiter verpflichtet fühlen.

Real schaltet übergangslos vom ersten in den fünften Gang

Die Konkurrenz bevorzugt heute andere, nicht weniger teure Systeme. Real Madrid gewann die Champions League mit permanenten Rhythmuswechseln. Aus Ruhephasen wurde übergangslos - inszeniert auch von Toni Kross - aus dem ersten in den fünften Gang, von null auf hundert hochgeschaltet. Der Favorit stellte Fallen, baute Konter ins Programm ein, um muskulöse Sprinter wie Cristiano Ronaldo und Gareth Bale in Szene zu setzen.

Stilbildend wird mehr und mehr das Powerspiel des FC Liverpool, den Madrid im letzten Finale im Mai noch besiegen konnte. Jürgen Klopp hat seine Fußballelf wie ein Überfallkommando konzipiert. Ballbesitz? Das ist was für die anderen. Klopps Team wartet auf Fehler, dann schlägt es gnadenlos zu. Zu bestaunen war dies im Viertelfinale der Champions League: Die Pep-Idee gegen die Klopp-Raserei - nach 31 Minuten war alles gelaufen, es stand 3:0 für den Deutschen. Fazit: Wer den Ball besitzen will, trägt das volle Risiko.

Dass Ballbesitz-Werte in die Irre führen, hat die WM bestätigt. Weniger ist heute mehr. Die im Achtelfinale gescheiterten Spanier (68,8 Prozent), Deutschland (67,3) und Messis Argentinien (64,0) lagen in dieser Kategorie klar vor Weltmeister Frankreich (51,9). Auch die Passpräzision verkam zum Muster ohne Wert: Spanien (91,0 Prozent), Deutschland (88,5), Frankreich (81,5). Die Franzosen aber haben es verstanden, den Pragmatismus der Klubs auf ihre Equipe zu übertragen. Stärken werden betont, Schwächen getarnt. Wer Raketen wie Kylian Mbappé und Antoine Griezmann in den Reihen hat, kann es sich leisten, auf Überfall-Situationen zu lauern. Der Fußball wird effektiver, schöner nicht unbedingt. In dieser Welt, in der mancher den Kulturwandel betrauert, wird es spannend zu beobachten sein, ob Joachim Löw, der Ästhet, sich noch in ihr zurechtfindet.

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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