Claudia Pechstein ist bekannt dafür, so schnell über das Eis zu gleiten wie kaum jemand anderes. Nur kleine Rillen bleiben hinterher auf der Oberfläche zurück. Am Donnerstagmorgen stand die Eisschnellläuferin als Klägerin im Saal E06 des Oberlandesgerichts (OLG) München. Diesmal hinterließ sie tiefe Spuren, sie erschütterte die ganze Sportwelt.
Das OLG entschied, die Klage von Pechstein gegen den Eisschnelllauf-Weltverband ISU zuzulassen. Für die 42-Jährige bedeutet dies: Nach fünfeinhalb Jahren hat ihr erstmals ein Gericht recht gegeben, auch wenn dieses Urteil zunächst nur indirekt mit ihrer Dopingsperre zu tun hat. Doch für die Sportwelt sind die Konsequenzen weit brisanter: Der Richter stellt mit der Entscheidung die Sportgerichtsbarkeit und damit den seit 30 Jahren existierenden Sportgerichtshof Cas infrage.
Ihr Forum:Fall Claudia Pechstein: Ist die Sportgerichtsbarkeit am Ende?
Das Oberlandesgericht München lässt Claudia Pechsteins Klage gegen den Eisschnelllauf-Weltverband zu. Der Richter stellt mit der Entscheidung die Sportgerichtsbarkeit und damit den seit 30 Jahren existierenden Sportgerichtshof Cas infrage.
Gericht kritisiert "Missbrauch von Marktmacht"
Bereits beim letzten Verhandlungstermin im November hatte sich angedeutet, dass das OLG zugunsten von Pechstein entscheiden würde. In der Urteilsbegründung beschrieb Richter Rainer Zwirlein nun erneut, warum er die Rolle des Cas als letzte Instanz problematisch findet. Er bescheinigt dem Sportgerichtshof "Missbrauch von Marktmacht". Zwirlein kritisierte, dass die Richter des Cas fast ausschließlich von Verbänden besetzt werden, Sportler jedoch kein Mitspracherecht haben. So müssen Sportler vor Wettkämpfen eine Schiedsvereinbarung unterschreiben - und unterwerfen sich dadurch dem Sportrechtssystem. Ein Gang zu einem staatlichen Gericht ist für sie ausgeschlossen - das könnte sich nun ändern.
Die Schiedsvereinbarung werde "von den Athleten nur hingenommen, weil sie keine andere Möglichkeit haben, an internationalen Sportveranstaltungen teilzunehmen", sagte der Richter. "Die Verbände erhalten bei Streitigkeiten mit Athleten ein strukturelles Übergewicht, das die Neutralität des Cas grundlegend infrage stellt." Zwirlein fordert deswegen eine Reform des Sportgerichtshofes: "Es gilt, Vorkehrungen schon gegen die bloße Möglichkeit und den Verdacht einer Manipulation der Richterbesetzung zu treffen."
Pechstein jubelte nach der Urteilsverkündung, vor dem Gerichtssaal ballte sie dann sogar die Faust. Die Eisschnellläuferin sagte in gewohnt überschwänglichem Ton: "Es ist ein großer Tag für mich. Dieser Sieg ist mehr wert als alle Olympiamedaillen zusammen." Ihr Anwalt Thomas Summerer fand: "Wir haben einen Sieg errungen, der Sportrechtsgeschichte schreibt."
Die ISU kündigte sofort an, in Revision zu gehen. Vier Wochen hat der Verband nun Zeit, um sich an den Bundesgerichtshof zu wenden. Sollte der die Zulässigkeit der Klage bekräftigen, wird erneut am Münchner OLG verhandelt: Der Fall würde dann juristisch neu aufgerollt. Dann würde es auch endlich um die Dopingvorwürfe gegen Pechstein gehen.
Vererbte Anomalie?
Die Eisschnellläuferin war 2009 wegen auffälliger Blutwerte gesperrt worden. Der Cas bestätigte diese Sanktionen. Pechstein bestreitet, gedopt zu haben. Sie erklärt die Unregelmäßigkeiten mit einer von ihrem Vater vererbten Anomalie - und zog schließlich vor ein deutsches Zivilgericht. Sie fordert Schadensersatz in Höhe von 4,4 Millionen Euro. Sollte nun der BGH der Zulassung der Klage zustimmen, müsste der Weltverband im Prozess ein Vergehen Pechsteins beweisen.
Für den Cas würde dies bedeuten: Er muss sich grundlegend reformieren. Oder es könnte zu einer Revolution im Sport kommen. Die Athleten könnten dann wählen, ob sie sich an ein Sportgericht oder ein ziviles Gericht wenden. Eine Sportlerin wie die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein an einem deutschen Gericht - dieses Bild wäre dann keine Besonderheit mehr. Und der Cas, zumindest in seiner derzeitigen Form, womöglich bald Geschichte.