Enthüllungen um Lance Armstrong:Wie ein ganzer Sport zerbröckelt

Die entlarvende Dokumentation des weitreichenden Doping-Betrugs von Lance Armstrong hat Konsequenzen: Staatliche Behörden nehmen Teamchef Johan Bruyneel ins Visier, der tief in den Sumpf an Lügen, Erpressung und Schummelei versunken sein soll. Die komplette Radsport-Branche sorgt sich um ihre Zukunft.

Johannes Aumüller

Mancherorts sind sie jetzt um Ruhe und Gelassenheit bemüht. Trotz jener 1000 Seiten umfassenden Dokumentensammlung, die seit dem späten Mittwochabend öffentlich einsehbar ist, und in der die amerikanische Anti-Doping-Agentur (Usada) minutiös die umfängliche Dopingmaschinerie in den Rennställen von Lance Armstrong dokumentiert. Der Radsport-Weltverband UCI, der in der gesamten Causa eine viel kritisierte Rolle gespielt hat, erklärt nur, die Anwälte würden die Dokumente prüfen, und es sei zu früh, etwas zu sagen.

Der Sportartikelhersteller Nike teilt mit, man plane, die Zusammenarbeit mit Lance Armstrong und dessen Krebs-Stiftung fortzusetzen. Und die Hauptfigur der Affäre selbst twittert nur den Satz, er werde den Abend mit der Familie abhängen - und verlinkt auf ein Musikvideo zum Song "Coming Up Roses" von Elliott Smith. Als habe sich da gar nichts Wesentliches ereignet.

In Wahrheit hat sich natürlich viel ereignet. So detailliert wie nie zuvor ist nun durch Beweise und Zeugenaussagen belegt, wie dopingverseucht die Rad-Szene zu der Zeit war, als Lance Armstrong seine sieben Siege bei der Tour de France einfuhr. "Früh in meiner Profikarriere wurde mir klar, dass es wegen der weit verbreiteten Anwendung leistungssteigernder Mittel bei Spitzen-Radfahrern nicht möglich war, auf dem höchsten Niveau mit ihnen mitzuhalten", sagt beispielsweise George Hincapie, bei allen Tour-Erfolgen Armstrongs in der Mannschaft und mit insgesamt 17 Teilnahmen Rekordstarter bei der berühmten Frankreich-Rundfahrt.

George Hincapie, 39, zählt gemeinsam mit Frankie Andreu, Michael Barry, Tom Danielson, Tyler Hamilton, Floyd Landis, Levi Leipheimer, Stephen Swart, Christian Vandevelde, Jonathan Vaughters und David Zabriskie zu jenen elf früheren Weggefährten Armstrongs, die sich in den vergangenen Monaten der Usada erklärt haben. Sechs von ihnen waren in der gerade zu Ende gehenden Saison noch aktiv und gaben nun in öffentlichen Statements teils jahrelange Doping-Vergehen zu: Barry und Hincapie haben ihre Karrieren just beendet, Danielson, Leipheimer, Vandevelde und Zabriskie befinden sich noch mitten drin.

Zwar verkürzte sich im Gegenzug für ihr kooperativeres Verhalten die Sperre auf sechs Monate, dennoch ist es erstaunlich, dass und wie detailliert sie ausgepackt haben. Gemeinhin gilt im Radsport ja das System der Omertà, jene Schweigepflicht, nach der niemand einen anderen belastet. Wer sich, wie etwa die deutschen Profis Jörg Jaksche oder Patrik Sinkewitz, nicht daran hielt, fand nach Ablauf seiner Sperre nur schwerlich oder nie mehr einen Job.

"Es hat enormen Mut der Fahrer und anderer erfordert, hervorzutreten und die Wahrheit zu sagen", sagte Usada-Chef Travis Tygart. Er empfahl der UCI, ein "Wahrheits- und Versöhnungsprogramm" einzurichten. Profis sollten ermutigt werden, "mit der Wahrheit über ihre Doping- Vergangenheit rauszurücken", um den Sport von seiner Vergangenheit zu befreien und das Betrugssystem zu zerstören.

Da könnte es sich als erster Test erweisen, wie die Branche mit den vier noch aktiven Fahrern nach Ablauf der Sechs-Monate-Sperre im März 2013 umgeht. Leipheimers Rennstall QuickStep erklärte, man nehme den Bericht "sehr ernst" und werde beraten. Auch das Team Garmin, wo Danielson, Vandevelde und Zabriskie sowie Vaughters als Teamchef unter Vertrag stehen, äußerte sich bisher noch nicht konkret. Man befinde sich in "einer kritischen Situation im Radsport", ließ es verlauten.

Was wird aus dem Radsport?

In der Tat ist noch nicht absehbar, welche Folgen diese Veröffentlichungen für den Radsport haben. Einerseits glaubt ja ohnehin kaum noch jemand, die Pedaleure würden allein mit der Hilfe von Wasser und Energieriegeln die Torturen über Landstraßen und Gebirgspässe überstehen. Andererseits ist jetzt die Furcht da, dass sich das ohnehin miese Image der Sportart noch weiter verschlechtern könnte.

Die Veröffentlichungen seien "ein Schock", erklärte etwa Sky-Teamchef David Brailsford, der sich pikanterweise ob der verblüffenden Dominanz seiner Mannschaft in diesem Jahr (unter anderem Doppel-Sieg bei der Tour durch Bradley Wiggins und Christopher Froome) und dem erst jetzt beendeten Arbeitsverhältnis mit dem umstrittenen niederländischen Mediziner Geert Leinders (SZ 11.10.) selbst Fragen gefallen lassen muss. "Ich habe Verständnis dafür, wenn die Leute jetzt alle Resultate im Radsport hinterfragen", sagt er.

Für manche aus der Branche könnten die Unterlagen auch konkrete Konsequenzen haben. Über den Belgier Johan Bruyneel, als Sportchef jahrelang der Strippenzieher in Armstrongs Mannschaft und heute Verantwortlicher beim Team Radio- Shack, heißt es im Usada-Bericht, er sei "in alle Details eingeweiht und an der Beschaffung und Organisation von Bluttransfusionen beteiligt" gewesen. Nun soll die belgische Staatsanwaltschaft Bruyneels Rolle untersuchen.

Der 48-Jährige hatte ja, im Gegensatz zu Armstrong und gemeinsam mit dem Arzt Pedro Celaya sowie dem Trainer Pepe Marti, angekündigt, gegen die Vorwürfe der Doping-Bekämpfer vors Schiedsgericht zu gehen. Dort müsste er dann unter Eid aussagen - und mutmaßlich würde als Zeuge auch Lance Armstrong geladen.

Der Texaner selbst muss nun befürchten, dass er noch weitere Erfolge verliert. Die Usada hatte ihm ja bereits die sieben Tour-Titel aberkannt, was die UCI, die nun drei Wochen Zeit hat, um die Unterlagen zu studieren, formal bestätigen dürfte. Zudem prüft das Internationale Olympische Komitee, ob es dem Amerikaner die Olympische Bronzemedaille von 2000 aberkennen kann, obwohl die übliche Acht-Jahres-Frist bereits abgelaufen ist.

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