Enthüllungen in Russland:Erschüttert von der Dopingseuche

Doping-Kronzeugin Julia Stepanowa wieder am Start

Kronzeugin Julia Stepanowa will die Strukturen im russischen Sport offenlegen.

(Foto: Paul Zinken/dpa)

Der schwerwiegende Betrug und seine Folgen: Nach der Aufdeckung des weitverzweigten Dopingsystems in Russland ist vielerorts Aktionismus ausgebrochen - echte Aufräumarbeiten aber gibt es nur wenige.

Von Michael Gernandt

Er hatte so eine Ahnung, nur geredet hat er nicht darüber, nicht öffentlich, höchstens Mal in vertrautem Kreis: Dass er vermutlich von einem Doper um olympisches Gold gebracht wurde. Australiens Geher-Champion Jared Tallent war nicht wirklich überrascht, als ihn die Nachricht vom Fall des Russen Sergei Kirdjapkin erreichte. Um 54 Sekunden, nach 50 Kilometern, hatte der ihn im Duell um den Sieg bei den Spielen 2012 in London abgehängt. "Der internationalen Geher-Gemeinde waren die Russen seit Jahren verdächtig", sagte Tallent. Schon bei der WM 2011 war ihm ein Betrüger aus dem russischen Geher-Zentrum Saransk im Weg zu Silber: der jetzt ebenfalls gesperrte Sergei Bakulin.

Die Richtung gab wohl Putin vor

Das hat die bisher größte Medaillenumverteilung in der Geschichte des Weltverbands der Leichtathleten (IAAF) zur Folge. Von den Podesten Olympias und der WM gestoßen werden vorerst fünf russische Elitegeher und die am vergangenen Wochenende gesperrten Julia Saripowa, Hindernis-Olympiasiegerin 2012, und Tatjana Chernowa, die Siebenkampf- Dritte von London. Weitere Medaillenwechsel nicht ausgeschlossen: Wenn die im Dezember von der ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping" aufgedeckte Affäre um planmäßiges Doping und Vertuschung desselben durch Korruption im Putin-Land erst einmal aufgearbeitet ist.

Die jüngsten sieben Fälle kommen Leichtathletik-Chef Valentin Balachnitschew und Sportminister Witali Mutko in Anbetracht globaler Kritik an den Russen paradoxerweise gelegen. So tönte der im Zwielicht und vor seinem Rücktritt stehende Balachnitschew im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Tass, es gebe in naher Zukunft keine Dopingskandale mehr mit russischen Athleten. Und Mutko führte die überführten Sportler als Beleg an für die Seriosität des Kontrollsystems seines Landes. Russland gehöre "weltweit in die Top fünf des Antidopingkampfs". Eine zynische Ansage.

Die Nachrichtenschwemme aus Dopeland hat vielmehr eine Frage aufgeworfen: Warum bemüht sich Russlands Sport, voran die Leichtathletik, so intensiv um die Spitzenposition in der Disziplin Doping? Im SZ-Interview deutete der russische Kronzeuge der ARD-Doku, Witali Stepanow, an, "ganz oben" habe man besonderes Interesse zu zeigen, "dass Russland besser ist als andere Länder". Mit der Machtübernahme Putins, so Stepanow, sollte Russland wieder zur Super-Sportmacht aufsteigen. Nach der Auflösung der UdSSR war Russland (Obama: "Regionalmacht") politisch und wirtschaftlich in die Defensive geraten. Um die zu überwinden, setzte Sportfreund Putin auch auf frische Muskelkraft des Sports.

Entschied sich der Sportapparat bei der Wahl der Mittel auch für jene aus Sowjetzeiten, als sich die UdSSR auf ein Duell um die fiesesten Dopingmethoden mit der DDR einließ, um den Westen abzuhängen? Immerhin erkannte der Schwede Arne Ljungqvist, 83, Chef der IOC-Medizinkommission, die Schwierigkeit, "mit einer Kultur zurechtzukommen, die in Teilen aus früheren Zeiten existiert". Im Übrigen hat Witali Stepanows Gattin Julia, eine bekehrte Ex-Doperin und wichtigste Faktenlieferantin in Hajo Seppelts ARD-Film, den Konsum von Dopingmitteln im russischen Sport im FAZ-Gespräch so zu begründen versucht: "In Russland sagt man: Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden. Es gibt Regeln, und es gibt das richtige Leben".

Viele neue Beweise

Im wirklich richtigen Leben aber könnte die Affäre folgenreich enden, spätestens zum Jahresende, wenn die Untersuchungen des Falls abgeschlossen sind. Drei Kommissionen sind am Werk, aber nur von einer werden handfeste Ergebnisse erwartet: von einem unabhängigen Gremium der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) mit dem meinungsstarken IOC-Mitglied Dick Pound an der Spitze, dem Jura-Professor Richard McLaren (beide Kanada) und dem Münchner Günter Younger, dem Leiter des Dezernats für Cyberkriminalität im Landeskriminalamt Bayern. Die Verpflichtung des Hauptkommissars ist ein Coup.

Mit seinem Arbeitsschwerpunkt im LKA wird angedeutet, in welche Richtung die Ermittlungen gehen können. Ist Younger ein zweiter Jeff Novitzky? Der Ermittler für die US-Lebensmittel- und Drogenbehörde, ein früherer FBI-Mann, löste die Dopingfälle Lance Armstrong, Marion Jones und Barry Bonds.

ARD-Autor Seppelt sagt, das Wada-Trio erhalte von den Stepanows sämtliche Beweismittel, "viel mehr als in der ARD-Doku gezeigt werden konnte". Es profitiert zudem von den erweiterten Ermittlungsmöglichkeiten des neuen Wada-Codes, der seit diesem Jahr gilt. Seppelt: "Pound führt nach meinem Eindruck die größte Untersuchung durch, die es im Sport seit langer Zeit gegeben hat."

Auch die IAAF, deren Administration in der ARD-Sendung nicht gut wegkam, ermittelt: durch seine Ethikkommission, die der Weltverband unabhängig nennt. Das Vertrauen in derlei Verbandsgremien hält sich in Grenzen. Elementar für die IAAF muss vielmehr die Erkenntnis sein, dass Opfer der russischen Dopingaffäre auch die Leichtathletik selbst ist. Längst schon erheblich ramponiert durch die Dopingseuche, wurde ihr noch ein zusätzliches Stück Glaubwürdigkeit genommen.

Als Erstes könnte es das Gehen treffen

Das mindert ihren Stellenwert weiter und liefert dem Internationalen Olympischen Komitee eine Steilvorlage, das seiner bisherigen Königsdisziplin bis zu fünf Disziplinen aus dem Olympiaprogramm streichen möchte, um Platz zu schaffen für neue Sportarten. Streichkandidat Nummer eins jetzt: das Gehen.

Kann die IAAF dem Russen-Desaster entkommen? Kaum mit wohlfeilen Wortmeldungen zum Antidopingkampf von wahlkämpfenden Kandidaten fürs bald vakante Präsidentenamt. Es wird, wenn das Wada-Trio klare Regelverstöße belegt sieht, auf Sperren für Athleten, Trainer und Funktionäre hinauslaufen. Angebracht wäre eine drakonischere Maßnahme. Julia Stepanowa kennt eine: "Der gesamte (russische) Verband sollte für zwei Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen werden". IAAF-Regel 44 ließe das zu, angewandt wurde sie noch nie.

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