Englands Niederlage gegen Italien:Episch statt schweißtreibend

Gerrard, Wayne Rooney

Gute Leistung, trotzdem verloren: Steven Gerrard (links) und Wayne Rooney

(Foto: AP)

Die englische Nationalmannschaft startet ins WM-Turnier - von einer überheblichen Premier-League-Attitüde ist diesmal nichts zu sehen. Stattdessen spielt Roy Hodgsons Team gegen Italien mutig, enthusiastisch und kreativ. Das Tragische: England scheitert dennoch.

Von Thomas Hummel, Salvador

So eine heroische Niederlage braucht ein Gesicht. Einen Beteiligten, der den letzten Elfmeter vergeigt oder den Ball zwischen den Händen durchrutschen lässt. Engländer kennen sich aus mit Gesichtern von WM-Niederlagen, sogar von heroischen. Seit dem Sieg 1966 verließen sie zumeist relativ früh das Turnier und immer gab es diese tragischen Helden. Diesmal hat das Land schon nach dem ersten Spiel einen. Er heißt Gary Lewin.

Daniel Sturridge erzielte in der Partie gegen Italien am Samstag den hochverdienten Ausgleich zum 1:1, es folgten die üblichen ekstatischen Jubelszenen, Menschen hüpften auf und neben dem Spielfeld, alle Mitglieder der englischen Ersatzbank taumelten über- und nebeneinander. Da lag plötzlich einer am Boden. Einige Leute kümmerten sich um den Gestürzten, weshalb lange nicht erkennbar war, wer da lag. War es vielleicht ein Spieler? Ist da jemand von der kühlen Insel kollabiert mitten im heißen, brasilianischen Amazonasgebiet? Die Trage wurde herbeigeholt. Und darauf lag Gary Lewin, 50 Jahre, Physiotherapeut. Er hatte so sehr gejubelt, dass er dabei umgeknickt war und sich erheblich am Knöchel verletzte. Gary Lewin wurde in die Kabine getragen.

"Das ist ein sehr trauriger Moment", sagte Trainer Roy Hodgson später, "die Weltmeisterschaft ist für ihn beendet." Gary Lewin steht sinnbildlich für die vielen Landsleute, die erhebliche Strapazen auf sich nehmen, um ihrer Nationalmannschaft überall hin auf dem Erdball zu folgen. Wenn es sein muss sogar bis nach Manaus mitten in den Dschungel, obwohl das Klima der traditionell leicht rosa englischen Haut gar nicht bekommt. Und die dann trotz vollen Einsatzes traurig und betrübt nach Hause fahren.

Am Ende ging das erste WM-Spiel Englands in der Gruppe D 1:2 gegen Italien verloren. Wieder mal alles gegeben, wieder mal verloren. Wiederholt sich in Brasilien die lange Geschichte der misslichen, englischen WM-Missionen? Trotz Gary Lewin spricht Einiges gegen diese Vorhersage.

Bei etwa 30 Grad Celsius und enormer Luftfeuchtigkeit hatten nicht einmal die Engländer selbst ihren Fußballern ein anständiges Spiel zugetraut. Doch dann überraschte Trainer Hodgson alle. Er stellte vier offensive Spieler auf den Platz und ließ angreifen. England hatte diese Niederlage keineswegs verdient, die Männer in den weißen Trikots waren über weite Strecken des Spiels die bessere Mannschaft. Doch gegen Italien darf man sich eben keine Fehler erlauben. Weder den Fehler, vorne die schönsten Chancen ungenutzt zu lassen. Noch den Fehler, hinten nicht aufzupassen.

Mit Danny Welbeck, Daniel Sturridge, Reheem Sterling und Wayne Rooney begann England sehr offensiv, die Außenverteidiger Leighton Baines und Glen Johnson unterstützten die Angreifer und sichteten immer wieder enorme Lücken auf den italienischen Außenbahnen. Nach 23 Minuten verhinderte Andrea Barzagli mit einer fast sensationellen Abwehraktion die englische Führung, nachdem Sturridge außen durchgebrochen war. Vor allem der sehr starke Sterling ließ die Abwehr Italiens nicht zur Ruhe kommen. Der 19-Jährige vom FC Liverpool war Hodgons Überraschung in der Anfangself - er war lange Zeit der beste Spieler auf dem Platz.

"Wenn die Enttäuschung nicht mehr so frisch ist, wird Roy Hodgson womöglich großes Selbstvertrauen aus dem Auftritt seines neuen Teams ziehen, nach einer Nacht mit lebhaftem Angriffsfußball", schreibt die Zeitung Guardian. Englands offensive Einstellung führte zu einem teilweise spektakulären Hin und Her der beiden Teams. Und das an einem Abend, an dem sich alle auf ein schweißtreibendes Ballgeschiebe eingestellt hatten.

"Das war ein episches Spiel, an das wir uns das ganze Leben erinnern werden", jubelte Italiens Fußball-Ästhet auf der Trainerbank, Cesare Prandelli. Er hatte gut reden, nahm er doch die drei Punkte mit aus dem unwirtlichen Ort. Immerhin gab er zu: "Wir haben gelitten, wir hatten Schmerzen."

"So was ist grausam"

Doch für England traf eben nur Sturrigde nach schöner Vorarbeit von Rooney zum zwischenzeitlichen 1:1 (37.). Dabei liefen vielversprechende Angriffe Richtung Tor von Ersatzmann Salvatore Sirigu. Die größte Chance zum erneuten Ausgleich vergab Rooney nach einer guten Stunde, doch der Stürmer von Manchester United schaffte es wieder nicht, sein erstes WM-Tor zu erzielen. Er sollte mal bei den Italienern nachfragen, wie das geht. Viele Chancen brauchen diese nicht.

Oft kamen sie nicht in den Strafraum des Gegners, aber wenn sie sich aufmachten, lösten sie gleich chaotische Zustände aus. Nach einer Finte von Andrea Pirlo schoss Claudio Marchisio den Ball an fünf Engländern vorbei ins Tor (35.) zum 1:0. Dann musste Phil Jagielka in höchster Not gegen Mario Balotelli auf der Linie retten, ehe der Stürmer nach herrlicher Flanke von Antonio Candreva zum 2:1 vollendete (49.). Am Ende beförderte der tänzelnde Pirlo noch einen Freistoß mittels schwer begreiflicher Flugbahn an die Latte.

"So was ist grausam auf diesem Niveau. Wir haben so viel reingeworfen in dieses Spiel und nichts dafür gekommen", haderte Kapitän Steven Gerrard. Die Enttäuschung saß tief, war doch dieser Auftritt so ganz anders als die häufig überhebliche Premier-League-Attitüde in den vergangenen Turnieren. England spielte mutig, enthusiastisch, kreativ. Scheiterte aber an einer Mannschaft, die wie keine andere hinten das Schlimmste verhindert, um vorne aus kleinsten Chancen das Maximum zu machen.

Hodgson hatte allen Grund, seinen Leuten Mut zu machen. "Wir müssen unsere Köpfe wieder nach oben nehmen. Wir haben alles in der eigenen Hand. Wenn wir die Leistung wieder bringen, haben wir gute Chancen auf einen Erfolg", erklärte er. Tatsächlich dürften die weiteren Gruppengegner Uruguay und Costa Rica das Spiel in Manaus mit leichtem Unbehagen verfolgt haben. Bringen die Engländer am Donnerstag gegen Uruguay eine ähnliche Leistung in der Offensive und können ihre Abwehr stabilisieren, müssen sie kaum das vorzeitige Aus fürchten. In São Paulo dürften zudem Bedingungen herrschen, die auch ein hohes Tempo bis in die Schlussminuten ermöglicht.

Die Expedition in den Dschungel an den Amazonas brachte stolze Rückkehrer hervor. Sie hatten zwar nichts Neues entdeckt, wieder einmal waren die Italiener schneller und gewiefter, sie brachten gar einen Verletzten mit nach Hause. Doch noch ist die Reise der Engländer nicht beendet.

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