Wahrscheinlich genießt Thomas Tuchel in England höhere Wertschätzung als in Deutschland. In seiner deutschen Heimat wird der neue Nationaltrainer der Engländer inzwischen oft kritisch gesehen, weil seine Stationen bei Borussia Dortmund (2015 bis 2017) und dem FC Bayern (2023 bis 2024) auf unterschiedliche Weise im Zerwürfnis endeten. Dagegen können sich im Prinzip wohl fast alle Engländer auf Tuchel verständigen. Seit dem Champions-League-Triumph mit dem FC Chelsea 2021 verfügt der gebürtige Krumbacher über ein beachtliches Ansehen auf der Insel. Wenn er nur nicht aus Deutschland käme, dem Land des Erzrivalen!
Tuchels Herkunft macht den Engländern schmerzhaft bewusst, dass sie derzeit über keinen eigenen geeigneten Trainer für den Chefposten verfügen.
EM-Finale in Berlin:„Zu Hause drehen gerade alle durch“
Der frühere Nationalspieler Gary Lineker erklärt, worauf es für England im EM-Finale gegen Spanien ankommen wird, er schwärmt von Lamine Yamal, verteidigt Gareth Southgates Taktik und stellt klar, warum Harry Kane nicht „shit“ ist.
Bei Tuchels Vorstellung im Oktober sagte Mark Bullingham, seit 2019 der Geschäftsführer von Englands Football Association (FA), dass man auf der Suche nach einem permanenten Nachfolger für den nach der EM 2024 zurückgetretenen Nationaltrainer Gareth Southgate „ungefähr zehn Kandidaten angehört“ habe. Der stolze englische Fußball, der sich als Mutterland des Spiels begreift, ging davon aus, auf einer Liste solchen Umfangs müsste auch der eine oder andere Trainer aus dem eigenen Land vertreten gewesen sein.
Doch auf Nachfrage bei dem in Newcastle United angestellten Engländer Eddie Howe, ob er von der FA für den Nationalposten kontaktiert worden sei, gab dieser bekannt: Nein, es habe keinen Austausch vonseiten des Verbands mit ihm gegeben. Die Nichtberücksichtigung von Howe war zumindest bemerkenswert: Howe hat Newcastle (mithilfe großzügigen Sponsorings aus Saudi-Arabien) immerhin aus der Abstiegszone der Liga in die Champions League geführt. Er gilt als Englands Vorzeigetrainer – kam für die FA aber nicht infrage? Nach dieser Neuigkeit mochte sich dann niemand mehr bei Graham Potter und Frank Lampard erkundigen, ob sie vielleicht angefragt worden waren, ehe die FA sich für Tuchel entschied.
Die Episode erinnert daran, dass England seit Jahrzehnten über keinen internationalen Spitzentrainer mehr verfügt. Noch nie hat ein Engländer einen Klub zur Meisterschaft in der Premier League gecoacht, die seit stattlichen drei Jahrzehnten besteht. Und auch im Europapokal warten die Engländer seit 27 Jahren auf den Triumph eines Landsmanns, zuletzt gewann Bobby Robson 1997 mit dem FC Barcelona den Europapokal der Pokalsieger. Diese Bilanz trifft die Engländer fast so schwer wie die bekannte Titellosigkeit der Männer-Nationalelf seit dem WM-Heimsieg 1966.
Der Zustand seiner Trainergilde treibt England während den letzten Länderspielen des Jahres besonders um, am Donnerstag in Griechenland und dann am Sonntag zu Hause gegen Irland in der Nations League. In beiden Spielen ist noch Interimscoach Lee Carsley zugegen, er hat irische Wurzeln, ist aber – wenigstens das – in Birmingham geboren. Allerdings sind die Sportmedien auf der Insel gerade nicht sonderlich gut auf Carsley zu sprechen, der bisherige U-21-Coach wirkt bei den Profis überfordert. Die Boulevardzeitung Sun stellte ihm soeben das Zeugnis aus, Englands Länderspielperiode sei aufgrund der zahlreichen Spielerabsagen ein Fiasko, noch bevor überhaupt ein Ball gekickt worden sei. Dies wäre unter seinem Vorgänger Southgate nicht passiert, mutmaßt das Blatt.
Die Premier League ist eben eine „in England stattfindende globale Liga“
Knapp 60 Millionen Menschen leben in Englands Monarchie. Die Fußballfans unter ihnen sind sich weitgehend einig – ein Königreich für einen renommierten Trainer. Die Pointe könnte sein, dass es vielleicht mehrere solche englische Trainer im Land schon gibt, die das Talent hätten, die weltweit besten Mannschaften zu führen. Sonst wäre es in den vergangenen Jahren eher nicht möglich gewesen, immer wieder neue begabte Spieler aus den Jugendakademien hervorzubringen. Nur haben die Engländer diese Übungsleiter bisher vermutlich nicht detailliert erschlossen.
Der Grund dafür ist wahrscheinlich die Premier League, die der Independent als „eine in England stattfindende globale Liga“ bezeichnet. Durch deren gewaltige Anziehungskraft unterscheidet sich der Trainermarkt in England deutlich von dem der europäischen Festlandligen. Englische Trainer müssen mit den weltweit profiliertesten Könnern um eine Anstellung konkurrieren. Sie können dabei nicht mal den Vorteil des Muttersprachlers ausspielen, weil die Weltsprache Englisch inzwischen auch bei ausländischen Trainern verbreitet ist.
SZ-Serie HeimatVereine:"Tuchel? Dazu wollen wir nichts sagen"
Der TSV Krumbach ist Thomas Tuchels Heimatverein, doch davon will hier niemand etwas wissen. Egal, wen man fragt: Keiner möchte mehr über den Trainer sprechen. Woran liegt das? Eine Spurensuche.
Wegen der finanziellen Fallhöhe zwischen Meisterschaft und Abstieg neigen die Klub-Managements um die dahinter stehenden Investoren dazu, auf bereits bewährte Trainerkräfte zu setzen. Sie glauben häufig, dass sie eine namhafte Lösung im Fall eines Misslingens vor Kritik bewahrt. So coachte der Engländer Roy Hodgson zum Beispiel Crystal Palace noch im Alter von 76 Jahren. Diese Ausrichtung versperrt jungen Trainern die Möglichkeit, sich auf Spitzenniveau zu zeigen und zu etablieren. Derzeit beehren nur drei englische Trainer die Premier League, weniger gab es nie.
Die Entwicklung setzt sich in der zweitklassigen Championship mit 24 Klubs fort. Bloß etwa die Hälfte der Teams wird von einem Engländer betreut. In allen anderen europäischen Ligen stellen die heimischen Coaches die größte Fraktion. Das liegt auch daran, dass sich dort die meisten Klubs einen teuren Trainer aus dem Ausland gar nicht leisten könnten. Durch die hohen TV-Gelder und die reichen Klubbesitzer spielt der finanzielle Aspekt in England jedoch nur eine untergeordnete Rolle bei den Entscheidungen.
Um den Trend umzukehren, sind die englischen Trainer darauf angewiesen, dass einem von ihnen bald irgendwie der Durchbruch gelingt. Er könnte dann als Vorbild dienen. Sonst bleibt England wohl nur diese Lösung: Thomas Tuchel bei einem positiven Abschneiden der Nationalelf einzubürgern.