Die Übernahme des englischen Nationaltrainerpostens dürfte grundsätzlich für alle verfügbaren Trainer reizvoll sein – bis auf Jürgen Klopp vielleicht, der nach seinem Abschied vom FC Liverpool vehement betont hat, in dieser Saison auf keinen Fall über eine Coachingtätigkeit nachzudenken. Die Nachfolge des nach der EM zurückgetretenen Gareth Southgate zählt aktuell zu den prestigeträchtigsten Positionen, die der Fußball zu bieten hat. Denn die Aussichten sind vielversprechend: Den Engländern um Kapitän Harry Kane vom FC Bayern wird zugetraut, die WM 2026 gewinnen zu können. Das Fußballmutterland ist zudem Mitausrichter der EM 2028, die in Großbritannien und Irland stattfinden wird.
Die Aufmerksamkeit für den vakanten Job befeuerte Englands Football Association (FA) zusätzlich mit einer eigenen Stellenausschreibung. Darin hieß es, die FA sei an Uefa-Pro-Lizenz-Inhabern interessiert, die folgende Kriterien erfüllen: Sie sollen über stattliche Erfahrungen im englischen Fußball verfügen und eine Erfolgsbilanz aufweisen, zudem außergewöhnliche Führungsqualitäten besitzen. Und, das ist nicht unwichtig, sie sollen mit der massiven öffentlichen Beobachtung umgehen können.
Eine Woche nach dem festgesetzten Bewerbungsende kam der Verband zur Erkenntnis, dass er den fürs Erste geeignetsten Kandidaten bereits unter Vertrag hat: den englischen U21-Nationalcoach Lee Carsley. Der 50-Jährige wurde zum Interimstrainer des A-Teams für die Nations-League-Partien gegen Irland und Finnland bestimmt – versehen mit der expliziten Aussicht, die Tätigkeit in den Herbstmonaten fortführen zu können. Carsley, geboren im englischen Birmingham, kam als Mittelfeldspieler einst auf 282 Premier-League-Partien für Derby County, Blackburn Rovers und den FC Everton – und bestritt 40 Länderspiele für Irland, das Land seiner Großeltern mütterlicherseits. Das macht seinen Einstand im Duell mit den Iren am Samstag in Dublin doppelt speziell.
Carsley sei nicht gerade der verführerischste Name, stöhnt eine Zeitung
Nach seiner Spielerlaufbahn lernte Carsley das Trainerhandwerk im Nachwuchsfußball, unter anderem in der Akademie von Manchester City. Als Proficoach sprang Carsley nur dreimal sporadisch ein, bei Coventry, Brentford und Birmingham. Wegen seines eher unscheinbaren Profils stöhnte der Telegraph, Carsley sei nicht gerade der verführerischste Name. Vor der Entscheidung hatte der nach Schlagzeilen trachtende Boulevard über Anstellungen von diversen ausländischen Fachkräften sinniert. Doch der FA sind wohl die Engagements der bisher einzigen nicht britischen Nationaltrainer – Sven-Göran Eriksson und Fabio Capello – noch zu präsent. An den wenig ergiebigen Amtszeiten des Schweden und des Italieners hatte die Klatschpresse deutlich mehr Gefallen gefunden als der Verband.
Mit der Wahl von Carsley setzt die FA zunächst den unter Southgate eingeschlagenen Kurs fort. Der Verband hatte Southgate nach dessen dreijähriger Aufbauarbeit bei den U21-Junioren im Herbst 2016 vorübergehend zum Cheftrainer der Männer befördert, bevor er ihn nach guten Leistungen des Teams zum damaligen Jahresende zur Dauerlösung ernannte. Carsley steht sogar schon seit vier Jahren in Diensten des Verbands, er coachte für eine Saison die U20 und dann die U21, die er 2023 zum ersten EM-Titel seit 39 Jahren führte. Gleichzeitig gehörte er dem erweiterten Mitarbeiterstab Southgates an.
Durch die Zusammenarbeit kennt Carsley die Abläufe in der Profimannschaft und weiß, was dem Verband in der Kommunikation und im Auftreten wichtig ist. Diese Erfahrungen ließ Carsley in die erste Kadernominierung einfließen: Er ging nach dem Leistungsprinzip vor und förderte besonders die jungen Spieler. So teilte er Vizekapitän Kyle Walker, 34, von Manchester City mit, diesmal auf ihn zu verzichten. Der Verteidiger sucht nach der kurzen Sommerpause noch seine Form, wurde im Klub erst einmal nur für ein paar Minuten eingewechselt. Fast unterwürfig fand Walker, dies sei die richtige Entscheidung gewesen – und übrigens sei Carsley am Telefon sehr nett herübergekommen. Diese Aussage erinnerte an die Menschenführung Southgates, dem es trotz harter Personalentscheidungen nahezu immer gelang, von den Spielern geschätzt zu werden.
Auch Manchester Uniteds Marcus Rashford und der soeben zum Saudi-Klub Al-Ahli gewechselte Ivan Toney blieben unberücksichtigt; die Stammspieler Jude Bellingham und Phil Foden fehlen zudem verletzt und krank. Dafür bestellte Carsley erstmals Noni Madueke (FC Chelsea), Angel Gomes (LOSC Lille), Morgan Gibbs-White (Nottingham Forest) und Tino Livramento (Newcastle United) ein, sie alle waren in den vergangenen Jahren Teil seines U21-Kaders gewesen. Carsleys Junioren überzeugten mit attraktivem Fußball und Nervenstärke. Beides soll der Trainer ebenfalls bei den Männern implementieren, die bekanntlich seit dem WM-Heimsieg 1966 auf einen Titel warten.
Durch das Vorgehen hält sich die FA geschickt mehrere Varianten offen
Durch den Abstieg der Engländer in den B-Pool der Nations League vor zwei Jahren scheinen die anstehenden Matches geradezu prädestiniert zu sein, um sich ausführlich der Spielkultur des Teams zu widmen. Sie hatte manchmal unter dem eher pragmatischen Ansatz Southgates gelitten – das war als ein Grund ausgemacht worden, dass diesem trotz des Erreichens von zwei EM-Endspielen in Serie der ersehnte Turniersieg verwehrt blieb. An der Entwicklung der Spielweise wird sich wohl entscheiden, ob Carsley über das Jahr hinaus das Amt bekleiden und die Engländer in die WM-Qualifikation führen darf. Grundvertrauen in ihn demonstrierte der Verband, indem ihm gestattet wurde, sein komplettes Trainerteam mitzunehmen, was einige Verschiebungen bei den Junioren zur Folge hatte.
Die FA hält sich durch das eigene unverbindliche Vorgehen bei der Nachfolgersuche für Southgate geschickt mehrere Varianten offen. Sollte sich abzeichnen, dass Lee Carsley die Erwartungen doch nicht erfüllt, könnte er jederzeit ohne Weiteres abgesetzt werden. In diesem Fall würde der Verband für das nächste Jahr vermutlich eine externe Personalie vorantreiben – und es eventuell auch bei Jürgen Klopp versuchen.