Süddeutsche Zeitung

Englands Nationalelf:Casinobesuche, Schlägereien und Corona-Verstöße

Im englischen Nationalteam häufen sich Undiszipliniertheiten. Nationaltrainer Southgate bleibt als Druckmittel nur die Kadergröße: Wer zur EM will, muss sich schnellstens besser benehmen.

Von Sven Haist, London

In seinem ersten Länderspiel für England hinterließ Reece James einen bleibenden Eindruck. Unmittelbar nach Abpfiff der Partie gegen Dänemark vergriff sich James gegenüber Schiedsrichter Jesus Gil Manzano deutlich im Ton. Rote Karte für einen Debütanten - ein Novum für England in der 1006 Partien umfassenden Länderspiel-Historie. Nach einer halben Stunde hatte bereits Abwehrkoloss Harry Maguire wegen rüden Fouls die gelb-rote Karte gesehen.

Doch damit nicht genug: Obendrein verursachte Kyle Walker, kürzlich nach bösem Tritt ebenfalls mit Platzverweis bedacht (drei Hinausstellungen in einem Kalenderjahr sind ein Negativrekord für England!), stümperhaft einen Elfmeter - und damit die erste Heimniederlage seit zwei Jahren. Den Strafstoß nutzte Christian Eriksen in seinem 100. Länderspiel zum Siegtor (35.). Das einfältige 0:1 im Duell mit den Dänen in der Nations League im heimischen Wembley verstärkt den Eindruck, dass England gerade dabei ist, in alte Muster zu verfallen.

Bei seinem Start als Nationaltrainer im September 2016 hatte Gareth Southgate besonders den Wert der Disziplin gepredigt. Unbeherrschbarkeiten, so der Neue, hätten nicht nur zum blamablen Aus bei der EM in Frankreich (1:2 gegen Island) geführt. Bei Großereignissen zuvor hatte England drei Ausscheidungsspiele sogar in Unterzahl zu Ende bringen müssen, was jeweils zu Niederlagen führte: im EM-Halbfinale 1968 (Platzverweis: Alan Mullery), im WM-Achtelfinale 1998 (David Beckham) und im WM-Viertelfinale 2006 (Wayne Rooney). Nachdem Rooney vor vier Jahren auf Dienstreise mit der Nationalelf einer Hochzeitsfeier bis in die frühen Morgenstunden einen Besuch abstattete, statuierte Southgate an ihm ein Exempel. Der Kapitän wurde abserviert, er bestritt danach kein Pflichtspiel mehr für sein Land.

Seit gut einem Jahr häufen sich disziplinarische Verstöße fast schon inflationär

Southgates strenge Teamleitung förderte die Homogenität, ließ aber zugleich die Mannschaft verblassen. Der überraschende vierte Platz bei der WM 2018 in Russland basierte auf Zusammenhalt und einer gründlichen Vorbereitung. Offenbar aber lässt sich dieses strenge Konzept nicht dauerhaft durchziehen. Seit gut einem Jahr häufen sich disziplinarische Verstöße fast schon inflationär. Die Torheiten dienen längst der Belustigung und der Auflage des fleißig Protokoll führenden Boulevards.

Den Anfang in einer Reihe an Verfehlungen machte James Maddison (Leicester City). Im Oktober 2019 hielt sich Maddison nachts im Casino auf, obwohl er sich wegen Unwohlseins beim Trainerteam abgemeldet hatte. Beim nächsten Lehrgang verpasste Raheem Sterling (Manchester City) seinem Mitspieler Joe Gomez (FC Liverpool) in der Kantine ein blaues Auge; beide waren sich zuvor bereits im Ligaspiel an die Wäsche gegangen. Jack Grealish (Aston Villa) und Kyle Walker (Manchester City) verstießen im Frühjahr gegen die Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Trotz Ausgehverbot war Grealish auf dem Weg zu einem Freund in einen Autounfall involviert, Walker lud zwei Prostituierte zu sich nach Hause ein. Im Sommerurlaub geriet Harry Maguire (Manchester United) dann auf der griechischen Insel Mykonos in eine offenbar heftige Schlägerei. Wegen schwerer Körperverletzung, Widerstand gegen seine Verhaftung und versuchter Bestechung verurteilte ihn ein Gericht zu einer Gefängnisstrafe von 21 Monaten und zehn Tagen auf Bewährung. Der Vorfall wirkte sich negativ auf Maguires sportliche Leistungen aus.

Die Serie der Fehltritte aber setzte sich fort: Gleich bei der ersten Nominierung für die Nationalelf empfingen Mason Greenwood (ManUnited) und Phil Foden (ManCity) Damenbesuch. Sofort mussten beide das Quartier verlassen. Vor wenigen Tagen dann setzten sich Bundesliga-Profi Jadon Sancho (Borussia Dortmund), Tammy Abraham und Ben Chilwell (beide FC Chelsea) allzu auffällig in Szene. Auf der Geburtstagsfeier von Abraham hielt sich das Trio nicht an die Corona-Regeln und wurde für den Test gegen Wales (3:0) aus dem Kader gestrichen. Zuletzt wurde Kieran Trippier (Atlético Madrid) aus dem Team gezogen, weil er nach einer Anzeige des Verbands aufgrund angeblicher Wettverstöße im Juli 2019 zu einer Anhörung geladen war. Trippier droht bei einer Verurteilung eine Sperre von mehreren Monaten.

Im Kontrast zum Rooney-Rauswurf hat Southgate zuletzt eher milde auf die Serie der Verfehlungen reagiert. Im Nachgang zur Dänemark-Partie stärkte er Maguire und James den Rücken. Southgate weiß, dass sein größtes Druckmittel die Kadergröße ist. Wer zur EM 2021 will, deren Finalrunde in London stattfindet, sollte schnellstens besseres Benehmen lernen. Bis heute hat der Trainer insgesamt 41 Spielern den Einstand im Nationaltrikot ermöglicht, allein elf waren es in diesem Jahr.

Aus diesem Portfolio der Talente hat sich bislang allerdings noch keine verlässliche Elf herausgeschält. Nur die Formation scheint in Stein gemeißelt zu sein. So hält Southgate an drei Zentralverteidigern fest, dabei ist England in diesem Mannschaftsteil nominell am schwächsten besetzt. Die übervorsichtige Herangehensweise des Trainers geht zulasten des Spielwitzes in der Offensive, in der das Team theoretisch über eine Reihe an hochbegabten Einzelkönnern verfügt. The Times titelte am Donnerstag: "Southgate hat den Glanz für Stabilität aufgegeben - und am Ende keines von beidem bekommen."

Nach vier Gruppenspielen ist England in der Nations League mit sieben Punkten und 3:2 Toren hinter Belgien und Dänemark auf den dritten Platz zurückgefallen. Wie sagt man so schön: Farbe ins Spiel der Engländer bringt derzeit nur die Anzahl der roten Karten.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2020/sonn
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