Achtelfinale der Fußball-WM:England tötet den Drachen

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Etwas schmächtig, aber mächtig stolz: Englands Torhüter Jordan Pickford. (Foto: AFP)
  • Die Engländer besiegen ihr schlimmstes Trauma und gewinnen ein Elfmeterschießen bei einem großen Turnier.
  • Die Helden sind Torwart Pickford und Siegtorschütze Dier.
  • Im Viertelfinale warten nun die Schweden.

Von Martin Schneider, Moskau

Der Mann, der das Trauma besiegte, wurde am 15. Januar 1994 in Cheltenham geboren. Eric Jeremy Edgar Dier lief fünf Schritte an, schoss den Ball mit dem rechten Innenrist von sich aus gesehen nach links, Torwart David Ospina sprang in diese Richtung, berührte den Ball noch; aber ihm fehlten ungefähr zehn Zentimeter mit der rechten Hand, um das Trauma zu verlängern. Aber war der wahre Bezwinger des Monsters nicht vielleicht doch der Mann, der am 7. März 1994 in Washington (Tyne and Wear) zur Welt kam? Jordan Lee Pickford, der Torwart, hatte den Elfmeter von Carlos Bacca gehalten, er sprang locker auf der Linie auf und ab, immer zweimal zur Latte. Wann hatte England je einen Torwart, der einfach cool blieb? Oder ist Harry Edward Kane, 28. Juli 1993 in Walthamstow in London, nicht derjenige, den die Queen zum Ritter vom Punkt schlagen sollte? Er traf ja immerhin zweimal, im Elfmeterschießen und im Spiel.

Und all das war ja eigentlich nur Trainer Gareth Southgate zu verdanken, der schon am 3. September 1970 in Watford auf die Welt kam und deswegen die Geschichte des Dramas nicht nur am längsten miterlebt hat, nein, er hatte sie auch mitgeschrieben. Bei der Europameisterschaft 1996 verschoss er den entscheidenden Elfmeter gegen Deutschland. Nun hat er die Geschichte besiegt.

"Es war schrecklich für uns über all die Jahre"

England hat im Elfmeterschießen gewonnen, 4:3 gegen Kolumbien, und das ist so historisch, dass man sich die Daten der Beteiligten merken muss. Es passierte nämlich bisher in der Geschichte einer Weltmeisterschaft: noch nie. Winning on penalties, diese Wortkombination kannte die englische Sprache nicht. England verliert nach Elfmeterschießen, der Satz wurde zum Witz der Alltagskultur, der Shootout, wie die Briten sagen, zum unbezwingbaren Drachen einer Fußballnation. Man sagt, man habe in diesem speziellen System der Sieger-Ermittlung eine Fünfzig-zu-fünfzig-Chance. Aber England verlor 1996 gegen Deutschland, 1998 gegen Argentinien, 2004 und 2006 gegen Portugal und zuletzt 2012 gegen Italien.

"Es war schrecklich für uns über all die Jahre", sagte Kane nach dem Spiel: "Natürlich war uns das bewusst." Jeder Spieler mit den drei Löwen auf der Brust lief mit einem Rucksack an, aber Kane, Marcus Rashford, Kieran Trippier und eben Dier stemmten auch noch das Extra-Gewicht. "Wir hatten den totalen Glauben bis zum Ende. Auch als der erste Elfmeter gehalten wurde", sagte Southgate. Denn Jordan Henderson hatte verschossen, England musste auch noch einen Rückstand drehen.

Diesmal, und das ist die Geschichte hinter den Emotionen, ging England das Elfmeterschießen nicht mit Hoffnung, sondern mit Akribie an. "Wir haben all ihre Schützen akribisch analysiert", sagte Southgate später und zur Parade von Pickford gegen Bacca schlicht. "Er hat seinen Teil des Plans erfüllt." Pickford sagte: "Ich bin vielleicht jung, aber ich habe eine ordentliche mentale Stärke."

Pressestimmen
:"Kommt der Fußball jetzt endlich nach Hause?"

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Schon vor fünf Tagen, als der Erfolg noch nicht absehbar war, erklärte er, man habe sich seit März auf dieses Szenario vorbereitet mit Studien und individuellem Training. Southgate antizipierte die mentale Ausnahmesituation. Er wechselte in der Verlängerung Rashford hauptsächlich deswegen ein, weil der sicher vom Punkt ist. Trippier sagte: "Wir haben Elfmeter nach so vielen Trainingseinheiten extra trainiert, wenn wir alle schon müde waren und es hat sich gelohnt."

England ging das Elfmeterschießen diesmal nicht als Schicksalsschlag, sondern als Bergankunft an und wurde belohnt. Man könnte auch sagen: Eine Nation stellte sich aktiv ihren Ängsten und hat sie nun besiegt.

Aber es war auch schon eine Leistung, überhaupt dort hinzukommen gegen diese Kolumbianer, in einem WM-Achtelfinale, das über Teile eher einer Straßenschlacht glich als einem Fußballspiel. In der ersten Halbzeit neutralisierten sich beide Teams in ihrer Ordnung und Disziplin, nach Kanes Führung (natürlich per Elfmeter in der 57. Minute) fing Kolumbien aber an, die Zweikämpfe härter zu führen - Schiedsrichter Mark Geiger entglitt die Partie. Für kurze Zeit machte jeder auf dem Feld, was er wollte, und als es schien, dass England diesen Charaktertest in 90 Minuten bestehen sollte, schoss der eingewechselte Kolumbianer Mateus Uribe einen Strahl von Schuss aufs Tor. Pickford kam mit seinen Fingerspitzen dran, Southgate witzelte später in Anspielung auf die nur 1,85 Meter seines Torhüters: "Ich war überrascht, dass er da überhaupt hinkommt, mit seiner Körpergröße."

Im Viertelfinale nun gegen die Schweden

Aber der Schuss weckte das Stadion noch mal auf, die kolumbianischen Fans, die sowieso in der absoluten Überzahl waren, gaben noch mal alles - und Yerry Mina köpfte den Ausgleich in der 93. Minute. In dieser Sekunde sah England wieder wie der tragische Verlierer aus. "Es trifft dich hart, wenn so was passiert", sagte Kane später.

Ein Teil der Mannschaft, die bei der Europameisterschaft gegen Island verlor, hat nun in der Hitze der Moskauer Nacht Kolumbien geschlagen. Weniger mit fußballerischer Brillanz als mit dem Glauben an sich selbst. Nun trifft das Team im Viertelfinale auf Schweden, und Gareth Southgate weiß, wie schnell so ein erfolgreiches Elfmeterschießen vergessen ist. Denn 1996 schlug England bei der EM im eigenen Land Spanien nach Elfmeterschießen. Danach kam die Niederlage gegen Deutschland, und kaum einer erinnerte sich noch an den Sieg gegen die Spanier.

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Fußball-WM
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Das Team von Gareth Southgate gewinnt das Elfmeterschießen gegen Kolumbien und trifft nun im Viertelfinale auf Schweden. Geschichte wiederholt sich doch nicht immer.

Von Johannes Aumüller

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