Süddeutsche Zeitung

Viertelfinale der Fußball-EM:England verschiebt die Machtverhältnisse

Spanien ist besser, Spanien dominiert - doch wie schon gegen die DFB-Elf gewinnen am Ende die anderen. Die Engländerinnen zelebrieren im Viertelfinale ihre Effizienz und haben bei einem Schiedsrichterentscheid richtig Glück.

Von Anna Dreher

96 Minuten mussten die Engländerinnen bangen, bis sie halbwegs sicher sein konnten, dass sie es sein würden, die an diesem Abend feiern - nicht die Spanierinnen. Und als das erste Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft am Mittwochabend wirklich vorbei war, brach vor allem aus Sarina Wiegman all die Erleichterung darüber heraus. Die Trainerin riss die Arme in die Luft und schrie und lachte und wiederholte diesen Ablauf immer wieder. Im September des vergangenen Jahres hatte die Niederländerin das Team übernommen mit dem klaren Ziel, bei der Heim-EM nach den zweiten Plätzen 1984 und 2009 endlich den Titel zu holen. Beinahe wäre diese Mission bereits vorzeitig beendet worden.

Ein verrückter Tag sei das gewesen, sagte Wiegman nach dem 2:1 (1:1, 0:0) vor 28 994 Zuschauern im Brighton & Hove Community Stadium. "Das ganze Spiel war ein Test. Das Niveau dieses Spiels war so hoch. Ich habe das nicht allzu oft erlebt." Die Spanierinnen waren als einer der Titelfavoriten ins dieses Turnier gegangen. Durch den Kreuzbandriss von Weltfußballerin Alexia Putellas und den bereits zuvor feststehenden Ausfall von Rekordtorschützin Jennifer Hermoso wurden sie zwar geschwächt, dass sie sich dennoch durchsetzen würden, war nicht ausgeschlossen.

Auch gegen England zeigten sie ihr starkes Kurzpassspiel und waren rein statistisch in quasi allen Belangen überlegen. In der ersten Hälfte ließen die Spanierinnen mit einer engmaschig gestrickten Defensive derart wenig Raum, dass die Engländerinnen nur einen Schuss absetzen konnten. In der Gruppenphase waren es im Schnitt bei 14:0 Toren noch 11,6 Schüsse gewesen. Aber wie schon zuvor beim 0:2 gegen Deutschland gelang es dieser technisch herausragenden Gruppe im entscheidenden Moment einfach nicht, den Ball ins Tor zu bringen. Erst in der 54. Minute überwand Esther González (Real Madrid) diese Hürde.

"Es gibt niemanden auf der Welt wie uns", sagt Spaniens Aitana Bonmatí

Spanien dominierte, aber die Machtverhältnisse sollten sich verschieben. Wiegman reagierte mit Wechseln und einer taktischen Umstellung, nachdem die 52-Jährige im vierten Spiel zum vierten Mal die gleiche Startelf berufen hatte. Alessia Russo setzte sich im Kopfballduell durch, Manchester Uniteds Ella Toone zog ab zum 1:1 (84. Minute).

Vielleicht schwang ein Gastgeberbonus mit, vielleicht sah Schiedsrichterin Stéphanie Frappart schlichtweg keinen zu großen Verstoß, aber wie Russo beim Hochspringen den Arm gegen Irene Paredes einsetzte, hätte durchaus als Foul gewertet werden können. Was dann ohnehin bald in Vergessenheit geriet: Georgia Stanway zog aus etwa 20 Metern zum 2:1 ab, 96 Minuten waren vorbei - und das Spiel gewissermaßen auch. Das Tor der künftig für den FC Bayern aktiven Engländerin war das 100. in 18 Partien mit Wiegman bei durchschnittlich fünfeinhalb Treffern. Seit 18 Begegnungen sind sie nun ungeschlagen.

"Es gibt niemanden auf der Welt wie uns", sagte Aitana Bonmatí enttäuscht. "Wir hätten es verdient gehabt zu gewinnen. Wir waren besser als England. Am Ende werden diese Spiele durch Details entschieden." Damit hatte sie nicht Unrecht. Aber die nach dem 1:1 freigesetzte Dynamik ihrer Gegnerinnen konnten sie nicht abfangen. Marca titelte "Mit erhobenem Kopf", El Mundo befand "Ein grausamer Abschied" und das Portal FutFem: "Wir haben gespielt wie nie zuvor - und verloren wie immer". Die Insel-Presse dagegen jubelte. Von einem "temperamentvollen England" war im Telegraph die Rede, das sich "dank einer Rakete von Georgia Stanway" ins Halbfinale und in "die Herzen einer Nation" katapultiert habe. Das Boulevardblatt Sun schrieb: "Stanway to Heaven."

Die 23-Jährige selbst fand: "Das war unwirklich. Das zeigt nur, auf welchem ​​Niveau wir uns befinden. Wir kommen nach einem Rückschlag zurück und machen es einfach." Es war der Kampf der Engländerinnen, der beeindruckte - und der Teamgeist. An diesem Abend zeigte sich, was vor der EM von Spielerinnen betont worden war: Dass Wiegman mit ihrer ruhigen und klaren Führung diese Gruppe gestärkt und ihr Anspannung genommen hat. Nun steht am 26. Juli erst das Halbfinale gegen Schweden oder Belgien an. Aber es ist schwer vorstellbar, dass den Engländerinnen ihre Entschlossenheit und Überzeugung auf dem Weg ins Finale nach Wembley abhandenkommt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5625295
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/bek
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.