Sie trug ihre Sportkluft und hatte ihr Käppi auf. Diese Kappe, die bei vielen etwas verändert im Kopf darunter. Wer sie trägt, gehört zur Familie des Sponsors, wo vieles glitzert, glänzt und blitzt – wenn nicht, dann wird frisiert. Doch Emma Aicher machte kaum den Eindruck, als hätte sie sich vor dem Rennen die Haare geglättet. Die 21-Jährige wirkte so, als sei sie soeben eine 2940 Meter lange und knapp 800 Höhenmeter tiefe Skiabfahrt heruntergerast. Und sagte danach: „Hat schon gepasst, das war jetzt nicht superschnell.“
Emma Aicher ist am Samstag nicht Ski-Weltmeisterin geworden. Dafür darf man sie getrost Weltmeisterin in Understatement und Bodenständigkeit nennen. Trösten musste sie niemand, nachdem sie mit Startnummer 30, der vierthöchsten des Tages, die Zwölferkogelpiste hinabgejagt war, als sei eine Horde Pinzgauer Fleckviehochsen hinter ihr her gewesen. Nach der Hälfte des Kurses lag Aicher knapp in Führung. Im unteren Teil des Rennens, wo sich die Piste nach zuvor 29 Fahrten und praller Sonne leicht, aber doch merklich verschlechtert hatte, verlor sie Zeit und kam schließlich mit 48 Hundertstelsekunden Rückstand als Sechste ins Ziel.

Para-Ski-WM in Maribor:„Es ist eine Frechheit, dass wir hier überhaupt anreisen“
Während bei der alpinen WM in Österreich nahezu perfekte Bedingungen herrschen, müssen die Para-Skifahrer in Slowenien ihre Medaillen auf einem schmalen, grauen Band ausfahren. Manche dort fragen sich: Warum starten nicht alle im winterlichen Saalbach?
Und selbst unter den Dutzenden österreichischen Reportern im Stadion von Hinterglemm machte die gar nicht so vage These die Runde: Mit einer etwas besseren Startnummer hätte Aicher eine Medaille gewonnen, womöglich sogar Gold. Dieser Umstand muss einen doch fuchsteufelswild machen, oder, Emma Aicher?
Aicher stützte sich mit der einen Hand am Skistock ab, in der anderen hielt sie ihre Trinkflasche fest. Nummer 30? „Das ist normal, ich krieg immer die Startnummern hinten“, sagte sie. Lospech? „Keine Ahnung, es ist mir eigentlich wurscht, mit welcher Startnummer ich fahr.“ Überhaupt, so Aicher: „Die Drei, die oben stehen, haben es richtig gut gemacht, und haben sich das verdient.“
Die Drei da oben hatten vorher wenige auf dem Zettel. Tatsächlich gewann die Goldmedaille die Frau mit Startnummer 1. Breezy Johnson aus den USA lieferte eine Fahrt ab, die ebenso blitzsauber war wie die Saalbacher Rennpiste im Anfangsstadium. Den zweiten Platz, 15 Hundertstelsekunden hinter Johnson und vor der Tschechin Ester Ledecká (+21), holte sich Mirjam Puchner, die dem Saalbacher Heimpublikum die dritte österreichische Medaille bescherte. Das Alpenland führte am Samstag damit alloanig den WM-Medaillenspiegel an, nichts ist in Austria derzeit wichtiger – wobei die Schweiz anderntags wieder vorbeizog.
Emma Aicher indes ist eher ein Mensch, der den Wert erkannt hat, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen. Während nicht wenige ihrer Konkurrentinnen ihre Ski mit modischer Puschelhaube, top frisiert, gestylt und geschminkt an den Fans vorbeitrugen, wehten Aicher die Haare durchs Gesicht, zwei Ohrringerl, eins links, eins rechts, mehr braucht sie nicht. „Ich bin zufrieden, dass ich gut skifahren konnte und dass ich Spaß daran hatte.“

In Saalbach-Hinterglemm:Medaillenspiegel und Ergebnisse zur Ski-WM im Überblick
Es wurden Festspiele für die Schweiz und Linus Straßer rettet den DSV. Unsere Übersicht zur alpinen Ski-WM zeigt alle Medaillensieger und -gewinnerinnen sowie den Medaillenspiegel.
Die Wellen der Zwölferkogelpiste drückte sie mit ihren Carvingskiern weg wie Watte
Dieser Satz beschreibt die junge Frau ziemlich präzise. Schnell und mit Freude skifahren, das ist ihr Beruf, und darum geht es ihr vormals, am Spektakel außenrum muss sie nicht zwingend überall dabei oder gar im Mittelpunkt stehen. Aicher lächelt, wenn ihr danach zumute ist, und wenn nicht, dann dürften die Mitmenschen das auch erfahren. Das ist vielleicht nicht rund um die Uhr scheinwerfertauglich, aber dafür ehrlich und echt.
Bei all dem vergisst man fast, wie auffällig stark Aicher am Samstag gefahren war (im Training zuvor war sie bereits Dritte geworden). Die Wellen der Zwölferkogelpiste, welche den meisten WM-Athletinnen zu schaffen machte, drückte sie mit ihren Carvingskiern weg wie Watte, nach den Sprüngen landete sie so im Winkel, dass sie in perfekter Fahrlinie weiterfuhr. 27 Hundertstelsekunden fehlten zur Bronzemedaille, und unter den deutschen Fans in Saalbach war ein Fragezeichen zu erkennen. Wie konnte es sein, dass Emma Aicher mit so einer hohen Startnummer ran musste?
Die Antwort liegt einerseits an ihren bisherigen Abfahrtsleistungen in diesem Winter. Dort standen nach den Rennen vor der WM null Punkte zu Buche, Aicher war entweder ausgeschieden oder nicht unter die besten 30 gefahren. Für die WM-Abfahrt qualifizierte sie sich wegen ihrer Leistungen in den anderen drei Disziplinen, Aicher ist eine Allesfahrerin. Der zweite Teil der Erklärung liegt im Modus der Startnummervergabe durch den Skiweltverband Fis. Je nach Weltranglistenplatz werden vor der WM-Abfahrt die besten 20 in die beiden ersten Startgruppen eingeteilt und ausgelost. Und so ist es logisch, dass Aicher aus Startgruppe drei starten musste. Bei der Auslosung am Vorabend des Rennens hätte sie also im besten Fall Nummer 21 bekommen können. Das Ergebnis ist bekannt.

Lawinengefahr bei Skitouren:„Meistens sterben Experten mit viel Erfahrung“
Mit 17 wurde er selbst von einem Schneebrett mitgerissen: Ein Gespräch mit dem Lawinenforscher Thomas Feistl darüber, wie Skitourengeher sich absichern können – und was zu tun ist, wenn ein Verschütteter zu ersticken droht.
Aicher hatte Lospech, und sie hätte dies nun benennen können. Sie hätte die Bühne nach dem Rennen für einen Einwand nutzen können, dass durch diesen Modus andere, die in sämtlichen Ranglisten weit hinter ihr stehen, vor ihr starten durften. Sie hätte den Vorschlag machen können, dass von Nummer 21 an künftig nicht mehr gelost, sondern nach den Verdiensten in der Weltrangliste gestartet wird. Doch das ist nicht Aichers Stil. Und während sie dastand und in kurzen Sätzen ihre Sicht der Dinge erläuterte, wirkte es so, als sehe sie das alles genau so und nicht anders.
Aicher gelingt es, in wenigen Worten viel zu sagen
Seit mehr als zwei Wintern wundern sich manche Beobachter der Szene über Aichers Wortkargheit. Wohingegen man anderen Personen des öffentlichen Lebens etwas mehr davon wünschen würde. Aicher hat das Skifahren in Schweden gelernt, dort wuchs sie mit ihrem jüngeren Bruder Max in Sundsvall auf, wo in der Familie hauptsächlich die Sprache ihrer Mutter gesprochen wurde, also Schwedisch. Erst 2021 kam sie ins Heimatland ihres Vaters nach Deutschland. „Damals konnte sie kaum Deutsch“, erklärt ein Vertrauter. Inzwischen lebt Aicher in Berchtesgaden in Oberbayern und nun, an diesem Tag in Saalbach zeigte sie sich sprachgewandt: Ihr gelingt es, in wenigen Worten viel zu sagen.
Kira Weidle-Winkelmann, die immerhin vor Lindsey Vonn (15.) aus den USA und Sofia Goggia (16.) aus Italien landete, wurde mit Startnummer 2 Zwölfte – und sprach lieber über ihre Teamkollegin als ihr eigenes Rennen. „Mit einer niedrigeren Startnummer hätte Emma vielleicht eine Medaille geholt“, so Weidle-Winkelmann. Aicher selbst sagte dazu nur: „Wir werden es nie erfahren.“ Wo sie recht hat, hat sie recht.