EM-Wunderknaben - Theo Walcott:Nie wieder Badelatschen

Lampard ist verletzt, Rooney gesperrt, junge Alternativen fehlen: Die EM könnte das Turnier von Theo Walcott werden. Der Rechtsaußen von Arsenal London versauerte einst als 17-Jähriger im englischen WM-Kader. Mittlerweile ist er gereift und erlebte seine beste Saison in der Premier League. Ganz ohne Probleme reist Walcott jedoch nicht nach Osteuropa.

Jonas Beckenkamp

"EM-Wunderknaben" ist die Serie von Süddeutsche.de zur Fußball-EM in Polen und der Ukraine. Bis zum Turnierstart stellen wir jeden Tag einen hoffnungsvollen Kicker vor, der ein Gesicht dieser EM werden könnte.

EM-Wunderknaben - Theo Walcott: Slalomläufer auf dem Platz: Theo Walcott umkurvt nicht nur die Stangen im Training äußerst rasant, sondern gerne auch mal die ganze Chelsea-Abwehr.

Slalomläufer auf dem Platz: Theo Walcott umkurvt nicht nur die Stangen im Training äußerst rasant, sondern gerne auch mal die ganze Chelsea-Abwehr.

(Foto: AFP)

Und dann rennt Theo James Walcott einfach los. Dieser winzige Wuselmann von einem Fußballspieler hatte sich den Ball geschnappt und zu einem Hindernislauf angesetzt - mitten rein ins Dickicht der Abwehrbeine, ein Piekser ins grimmige Herz der Chelsea-Defensive, wo John Terry normalerweise niemanden vorbei lässt.

Auch diesmal? Walcott platscht auf den Bauch, er scheint erledigt, verliert den Ball. Doch noch ehe der Rest die Szene überblickt, rappelt er sich auf und flitzt mit der Kugel weiter in Richtung Tor. Ein satter Schuss ins kurze Eck - drin, 3:2 für Arsenal, die Stamford Bridge, wo der FC Chelsea seine Heimspiele austrägt, steht unter Schock.

Die "Gunners" gewinnen das Derby 5:3, es ist der Oktober des vergangenen Jahres und wieder einmal beweist Theo Walcott seine außergewöhnlichen Qualitäten. Einen Slalomläufer mit solchem Tempo und derartiger Begabung wie Walcott haben sie auf der Insel seit den heiligen Tagen von George Best nicht mehr erlebt. Kein Wunder, dass der Guardian über den 23-Jährigen voller Bewunderung schreibt: "Er jagt übers Feld wie ein Jack Russell, der an einem vollbesetzten Strand einer Biene hinterher hetzt."

Angestachelt von solchen Vergleichen und Superlativen wurde Theo Walcott zu genüge. Aus seinem Gesicht blitzt immer noch etwas Grünschnabeliges, doch nach mittlerweile sechs Jahren Profifußball ist aus dem unbekümmerten Jüngling ein erfahrener Sprinter geworden. Wer es gut mit ihm meint - und das sind vor allem die Arsenal-Fans - hält ihn sogar für den britischen Messi.

Im Hype-Mutterland England gilt der gebürtige Londoner neben Wayne Rooney als begabtester unter den aktuellen Nationalspielern. Und weil Rooney wegen einer Tätlichkeit in der Qualifikation für die ersten beiden EM-Spiele gesperrt ist, könnte Walcott in der Offensive der "Three Lions" gleich dreifach gefragt sein: als Vorbereiter, als Vollstrecker und als Hoffnungsträger.

Viel Verantwortung für einen schüchternen Jungen, dessen Geschichte mit einem Knall im Sommer 2006 beginnt: Damals verblüfft der nicht immer glückliche englische Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson mit Walcotts Nominierung für die WM. Walcott? Who? Ein Bubi, der bis dato nicht eine einzige Minute Premier-League-Luft geschnuppert hatte? Yes, of course. Zumindest als Zuschauer ist er tatsächlich in Deutschland dabei, auch wenn ihm letztlich nur die Rolle des Badelatschenträgers im Teamhotel in Baden-Baden bleibt.

Bei Arsenals Jugendförderer Arsène Wenger hingegen bekommt er schnell eine tragende Rolle: Im System des Franzosen reift Walcott in den folgenden Jahren - trotz einiger Durchhänger - zu einer erwachseneren Version des Baby-Überfliegers. Das Flügelspiel ist sein Fachgebiet, Dribblings Richtung Mitte sein bevorzugtes Stilmittel. Stoppen kann ihn wenig.

Außer immer wiederkehrende Verletzungen: 2007 zwickt die Schulter, 2009 der Rücken und die Muskeln. Einmal offenbart sogar Wenger: "Wegen der Verletzungen zeigt Theo oft nur 50 Prozent seines wahren Könnens." Als Walcott erstmals wieder voll bei Kräften ist, versagt ihm Trainer Fabio Capello überraschend die Teilnahme an der WM 2010 - beim 1:4-Aus der behäbigen Engländer gegen Deutschland fehlt dann ausgerechnet ein unberechenbarer Sausemann wie er.

Cole? Wright-Philipps? Walcott!

Jetzt, nach seinem bisher besten Jahr in der Premier League (35 Einsätze, acht Tore, 13 Vorlagen), soll die EM ihm endlich auch zu internationalem Ruhm verhelfen. Zwar musste der Außenstürmer im April die Saison wegen einer Oberschenkelverletzung vorzeitig beenden, aber beim neuen England-Coach Roy Hodgson dürfte er nach seiner Genesung Chancen auf reichlich Einsatzzeit haben - vor allem, weil mit Frank Lampard und Gareth Barry gleich zwei Stammkräfte ausfallen.

In Polen und der Ukraine ist Walcott somit einer der wenigen Engländer, der die Fans zu Hause ein wenig träumen lässt. Typen wie ihn katapultierte es zwar zuletzt immer wieder nach oben, doch weder Joe Cole, noch Shaun Wright-Philipps oder Aron Lennon schafften am Ende den internationalen Durchbruch. Hinzu kommt, dass plötzlich auftauchende Talente wie derzeit in Deutschland auf der Insel (abgesehen vom 18-jährigen Alex Oxlade-Chamberlain) rar sind.

"Ich freue mich jedes Mal, ihn spielen zu sehen. Er ist fantastisch," sagt Arsenals Sturmlegende Ian Wright. Solche warmen Worte braucht der sensible Theo Walcott, dessen größter Rückhalt normalerweise seine Familie ist. Doch nicht bei dieser EM.

Wie bekannt wurde, verzichten Walcotts aus Jamaika stammender Vater und sein Bruder aus Angst vor rassistischen Attacken von Hooligans auf eine Reise in den Osten. "Mein Vater und ich haben entschieden, dass wir nicht in die Ukraine fahren, weil wir rassistisch motivierte Übergriffe befürchten", schrieb Ashley Walcott, Theos Bruder, beim Internetdienst Twitter. Der Hintergrund: Vor kurzem beunruhigte eine im englischen Fernsehen ausgestrahlte Doku die Nation, wonach Neonazis in Donezk Überfälle auf dunkelhäutige und asiatische England-Fans planen.

"Manche Dinge sind es nicht wert, riskiert zu werden. Es bleibt die Frage, warum ein so großes Ereignis in einem Land stattfindet, indem die Polizei nicht für die Sicherheit seiner Besucher jeder Hautfarbe sorgen kann", so Ashley Walcott weiter. Auch Coach Roy Hodgson nimmt diese Befürchtungen ernst: "Was in dem Film zu sehen war, macht mir Sorgen - auch im Hinblick auf die England-Supporter." Theo Walcott probiert sein Glück somit ohne seine engsten Vertrauten. Er konzentriert sich ganz auf den Sport. Wenn er losrennt, käme ohnehin kein Mob der Welt hinterher.

"EM-Wunderknaben" ist die Serie von Süddeutsche.de zur Fußball-EM in Polen und der Ukraine. Bis zum Turnierstart stellen wir jeden Tag einen hoffnungsvollen Kicker vor, der ein Gesicht dieser EM werden könnte. Am morgigen Samstag: Olivier Giroud (Frankreich).

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