Türkei vor dem Viertelfinale:So weit die Flügel tragen

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Das kleine Flugzeug hebt mal wieder ab: Vincenzo Montella wird hier von Kapitän Hakan Calhanoglu emporgehoben. (Foto: Sebastian Christoph Gollnow/dpa)

Der letzte Italiener bei dieser Europameisterschaft trainiert das türkische Nationalteam – und hat in einem turbulenten Luftraum bislang stur seinen Kurs gehalten. Reichlich Kritik musste Vincenzo Montella trotzdem schon einstecken.

Von Thomas Hürner

Umweltaktivisten waren entsetzt und hätten sich bestimmt an die Rollbahn gekettet, wenn diese Protestform dieser Tage noch angesagt wäre. Vielleicht hätten sie damit sogar den Höhenflug der türkischen Nationalelf bis ins EM-Viertelfinale verhindern können, wer weiß. Aber es war ja keiner da. Der Charterflieger konnte um 16.16 Uhr störungsfrei in Hannover abheben und die 150 Kilometer nach Hamburg zurücklegen. Von dort wurden um 16.43 Uhr erst die Landung und später ein 2:1 gegen Tschechien im letzten Gruppenspiel vermeldet, das genügte den Türken für den Einzug in die nächste Runde. Der Verkehrsreferent des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland blieb zwar sicherlich aufgebracht wegen der „zehn bis 20 Mal schlechteren“ CO₂-Bilanz im Vergleich mit einer Bahnfahrt. Für diese gut gemeinte Aufklärungsarbeit hätte er sich allerdings kaum einen untauglicheren Adressaten aussuchen können. 

Denn Vincenzo Montella, als türkischer Nationalcoach einer der Organisatoren dieser Reise, wird quasi sein Leben lang schon Aeroplanino gerufen: kleines Flugzeug. Eine emotionale Verbundenheit zu diesem Transportmittel darf also vorausgesetzt werden. Früher war Montella mal Stürmer, ein kompakter Strafraumwühler, dank seiner effizienten Antriebsdüsen konnte man ihn aber auch prima steil schicken. So hat er es trotz seines Hauptdaseins als Edeljoker auf 230 Treffer gebracht, die meisten davon im Trikot der AS Rom. Und er feierte jeden einzelnen davon auf spezielle Weise: Montella rannte mit ausgebreiteten Armen über den Platz, in Schlangenlinien und schwankend, wie ein kleiner Segelflieger eben. Irgendwie kultig. Die Römer jedenfalls lieben ihn bis heute, und Montella liebt die Römer. Dabei ist er Süditaliener, geboren in Neapel. Er hat eine Jugend in bescheidenen Verhältnissen hinter sich.

Aufwind gab ihm der Fußball, immer schon. Seinen 50. Geburtstag feierte er jüngst jedoch als Nationaltrainer der Türkei, ein risikobehafteter Job, wenn es um die eigene Gemütslage geht. Da gerät man schnell mal in Turbulenzen, heftige Bruchlandungen sind immer nur ein Spiel entfernt, oft ist es das nächste.

Montellas Team hat bei dieser EM die erste Gruppenpartie 3:1 gegen Georgien gewonnen, und er konnte seinen Spielern danach für das „wunderschöne Geschenk“ danken. Doch das hätte auch anders laufen können. Ganz, ganz anders. Montella weiß, was es heißt, dieser emotionalen, mitunter irrationalen Fußballnation als Coach vorzustehen. Wie schnell sich eine Art Siegesrausch ausbreitet. Wie es kurz danach um einen herum wieder düster wird. Und wie man es letztlich ja doch niemandem recht machen kann, außer man liefert, womit sich türkische Fanherzen bezirzen lassen: Siege – blöderweise wird bis auf diese rein gar nichts akzeptiert.

Als er Güler zu Beginn einmal draußen lässt, erhitzt er damit viele Gemüter

Wahrscheinlich ist Montella selbst mal der Auffassung gewesen, der schwierigste Job südlich der Alpen wäre jener des Commissario Tecnico, der des italienischen Nationaltrainers. Am Fuße des Taurusgebirges geht’s aber noch mal etwas ungemütlicher zu, obschon Montella eine nach menschlichem Ermessen vorzeigbare Bilanz hat: Im vergangenen September übernahm er den Posten von Stefan Kuntz, die EM-Teilnahme war da noch im Schwebezustand. Mit Montella gelang die Qualifikation für das Kontinentalturnier, wo in Portugal, Tschechien und Georgien durchaus anspruchsvolle Gruppengegner warteten. Montella führte sein Team ins Achtelfinale und bezwang dort Österreich 2:1, an diesem Samstag geht’s nun in Berlin gegen die Niederlande (Anpfiff 21 Uhr). Ein Sieg fehlt den Türken also zum Halbfinale, das wäre ein echter Triumph, weiter haben sie es noch nie geschafft. Nur: Ob es Montella selbst dann auch allen recht gemacht hätte?

Mitunter dürfte sich das Erwartungsmanagement komplizierter für ihn angefühlt haben als die Vorbereitung auf die Gegner. Im März hatte es eine 1:6-Niederlage gegen Österreich gesetzt, eine Schmach, die Türken wurden demontiert in Wien. Heimische Medien waren um historische Referenzen nicht verlegen und forderten eine sofortige Entlassung des Italieners. Wohl auch deshalb hat er die Revanche am Dienstag genüsslich ausgekostet. Montella sprach viel vom „türkischen Herzen“, von „Passion“, „Liebe“, „Tiefgründigkeit“ und einem „Sieg für alle Türken in der Welt und alle Türken in der Heimat“. Bezirzend war das, gewiss. Doch zuvor hatte Montella auch von der türkischen Anhängerschaft einiges an Kritik erfahren: für seinen weitestgehenden Verzicht auf einen echten Stürmer, für seine angeblich zu konservativen Aufstellungen, vor allem aber für seinen Umgang mit dem Goldjungen Arda Güler. Eigentlich hat der 19-jährige Angreifer von Real Madrid fast immer gespielt, er war mitunter eine echte Offenbarung. Bei der 0:3-Niederlage gegen Portugal aber hatte ihn Montella zu Beginn draußen gelassen und damit gleich die Gemüter erhitzt. Über ein zersplittertes Binnenverhältnis wurde debattiert, sogar von Schikane und Hochverrat an der türkischen Fußballnation war die Rede.

Gegen Österreich spielte er wieder von Anfang an: Arda Güler. (Foto: Bagu Blanco/Pressinphoto/Imago)

Montella ließ sich von alldem nicht aus der Fassung bringen, so ist sein Naturell. Er ist kein lauter Typ, eher rational, sein Italienisch ist geschliffen und dialektfrei. Auf Pressekonferenzen beantwortet er alle Fragen in seiner Muttersprache, die Tonlage immer gleich. Seine Herangehensweise bei der EM wechselt er dagegen dauernd: Viele Personalwechsel, auch Systeme wurden hin und her getauscht, die Türken kamen eher über Hingabe als über Kalkül. So wurde das jedenfalls lange gesehen, doch im Achtelfinale steckte auch strategisch viel drin. Die Fünferabwehr lief nie in gegnerische Pressingfallen, das Zentrum war dicht, die Österreicher wurden in die Außenbereiche des Feldes gedrängt. Und Arda Güler wuselte immer zwischen jenen Linien, in die der Ball zum Herauslösen vom Gegnerdruck hin musste. Wer hat sich das sonst einfallen lassen als Coach Montella?

Montella ist nun – vom Schiedsrichterwesen abgesehen – der letzte verbliebene Italiener im Turnier, im Achtelfinale waren noch drei Trainerkollegen und eine italienische Mannschaft dabei gewesen. Nicht schlecht für einen, den seine Trainerkarriere nur punktuell zu großen Klubs geführt hat; zuletzt war Montella bei Adana Demirspor in der Türkei angestellt gewesen. Doch neulich, nach dem Sieg gegen Österreich, fiel ihm eine spannende Parallele ein: AC Florenz, AC Milan, das türkische Nationalteam – diese Stationen hat Montella gemeinsam mit Fatih Terim, Spitzname „Imperator“. Der 70-Jährige steht in der Türkei im Rang eines Volkshelden, Montella pries ihn als „Monument“.

Einiges von seinem Ansehen hat Terim übrigens erworben, als er die Türken bei der EM 2008 bis ins Halbfinale geführt hat.

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