Der Mann, der bei der EM die meisten Kritiker verstummen ließ, betritt den Interviewraum im Trainingszentrum der Spanier in Donaueschingen mit ein paar Blutflecken auf dem seegrünblauen Shirt. „Hab’ ich gar nicht gemerkt“, sagt Aymeric Laporte, Innenverteidiger, und bestätigt, kaum, dass er auf einem Stuhl Platz genommen hat, dass auch er den Eindruck habe, bei der EM viele Kritiker eines Besseren belehrt zu haben: „Ja. So sehe ich das. Denn die Wahrheit ist, dass ich sehr viel Kritik habe einstecken müssen – nicht nur in dieser Saison, sondern über die ganzen Jahre hinweg.“
Und so sitzt er da, mit dem erhabenen Gefühl, es vielen, wenn nicht allen, gezeigt zu haben: Am Sonntag wird er in Berlin Spaniens Abwehr im Finale gegen England anführen. Und wenn La Roja, „die Rote“, in ihrem fünften EM-Endspiel beste Chancen auf den vierten Titel nach 1964, 2008 und 2012 hat, dann liegt es auch an ihm. An einem baumlangen, kopfballstarken Defensivmann, der den endlos anmutenden Namen Aymeric Jean Louis Gérard Alphonse Laporte trägt, weil er mit den Namen aller Großväter getauft wurde, die vor rund 30 Jahren seine Geburt miterlebten, in einem französischen Ort namens Agén aus der Region Nouvelle-Aquitaine.
Pardon: Französisch? Mais oui! Der französische Einschlag ist immer noch unüberhörbar, wenn Laporte – übrigens perfektes – Spanisch spricht. Er hat sich die Sprache in seiner Zeit bei Athletic Bilbao angeeignet; einem Verein, der nur Basken unter Vertrag nimmt und Laporte im Jahr 2009 verpflichtete und gewissermaßen eingemeindete. Es war der Start zu einer Profikarriere, die ihn über die spanische Liga nach England zu Manchester City führte; nach dem Champions-League-Sieg 2023 unter Pep Guardiola zog er weiter nach Saudi-Arabien, zum FC Al-Nassr.
Viele spanische Sportjournalisten verzogen die Schnute, als er für die EM berufen wurde; in solche Gesichter blickte Laporte schon, als er nach der WM 2018 (aus Enttäuschung über die Nichtberücksichtigung durch Frankreichs Nationalcoach Didier Deschamps) die spanische Staatsbürgerschaft annahm und erstmals für Spanien auflief. Denn auch unter Spaniens Sportjournalisten ist der Chauvinismus weitverbreitet.
„Es hat seither sehr wenige Spiele gegeben, in denen ich Anlass gegeben habe, an meiner Leistung zu zweifeln“, sagt er. In der Tat. Bei dieser EM zählt er, obwohl aus der vermeintlichen Witzliga Saudi-Arabien eingeflogen, zu den besten Verteidigern nicht nur Spaniens, sondern des gesamten Turniers.
Laporte vermisst das Feld mit dem Ball am Fuß wie einst Gerard Piqué
Denn dass Spanien die Mannschaft ist, die als einzige sechs Siege aus sechs Spielen geholt hat, liegt nicht nur an den Wunderknaben im Sturm wie Lamine Yamal und Nico Williams oder den überragenden Mittelfeldspielern Rodri, Fabián und Olmo. Sondern auch daran, dass Spanien defensiv beste Werte aufweist. Keine Mannschaft eroberte mehr Bälle als Spanien – keine tat das so weit vom eigenen Tor entfernt wie das von Luis de la Fuente trainierte Team. Laut dem Branchendienst „Statsbomb“ finden die Defensivaktionen der Spanier im Schnitt 51,30 Meter vor der eigenen Torlinie statt; der Turnierdurchschnitt lag nach dem Halbfinale bei 43,82 Metern. Und das wiederum hilft zu verstehen, warum Laporte laut offizieller Turnierstatistik auf gerade einmal drei geführte Zweikämpfe in fünf Spielen kommt und Spanien mit drei Gegentoren in sechs Spielen defensiv bestens dasteht. Darüber hinaus fiel bei diesem Turnier eine neue Facette ins Auge: Laporte vermisst das Feld mit dem Ball am Fuß wie einst Gerard Piqué.
Eine Frage der Freiheit? „Wenn du es mit dem vorherigen Trainer (Luis Enrique/d. Red.) vergleichst, kann das schon sein“, sagt Laporte. „Luis de la Fuente gibt uns sehr viel Freiheit und Ruhe. Wir wissen, was und wie wir spielen wollen. Letzten Endes haben wir zu keinem Zeitpunkt aufgehört, wir selbst zu sein.“
Die Spanier haben bislang drei frühere Weltmeister besiegt (Italien in der Gruppenphase, Deutschland im Viertel-, Frankreich im Halbfinale), im Endspiel wartet in England der vierte und letzte mögliche Gegner des Turniers mit Weltmeisterehren. Doch Laporte betont, dass er keinen größeren Genuss aus dem Turnier ziehe, nur weil die Gegner Rang und Namen hatten (Kroatien war neben Albanien und Georgien auch noch dabei). Man könne ja mal bei den Finalgegnern aus England nachfragen, die seien gewiss froh, das Endspiel durch Siege gegen weniger renommierte Gegner erreicht zu haben. Persönlich, so sagt Laporte allerdings, habe er sich „immer mit den Besten messen wollen“. Vor dem Turnier freute er sich auf Duelle mit: Romelu Lukaku, der mit Belgien ausschied, ohne auf Spanien zu treffen; mit dem Franzosen Kylian Mbappé, den die Spanier im Halbfinale aus dem Weg räumten; und mit Harry Kane vom Finalgegner England. Im Männerbereich sind Laporte und Kane achtmal aufeinandergetroffen, in der Premier League vor allem. Viermal siegte Kanes Mannschaft (Tottenham Hotspur), dreimal jene von Laporte (Manchester City).
Vor zwei Monaten wurde sein Sohn geboren, er hat ihn sechs Tage gesehen
„Kane ist nicht der typische Stürmer, der in deinen Rücken läuft und dir durch einen Sprint Schaden zufügt“, analysiert Laporte. „Aber er schirmt den Ball gut ab, er ist entschlossen, physisch stark, im Strafraum und in der Luft sehr gut – und hat eine spektakuläre Schusstechnik. Er ist eine große Gefahr.“ Und beileibe nicht die einzige, „ich spreche schon das ganze Turnier über England“, versichert er, mit sechs Mitgliedern des Kaders habe er noch bei City zusammengespielt, „da sind viele Spieler dabei, gegen die es schwer ist, sich zu verteidigen“. Das sagt er aber nur einerseits.
Denn andererseits ist er ehrlich genug, zu sagen, dass es ihn überrasche, dass sie „individuell so gut“ seien und „als Gruppe etwas weniger“, was man auch an den Turnierresultaten erkenne. Auch wenn er seine persönliche „Elf des Turniers“ noch nicht zusammengestellt habe – „spontan fällt mir kein Engländer ein, den ich auf der Grundlage des bisherigen Turniers herausheben würde“. Aber: „Auf der Basis des Namens würde ich viele nennen.“ Deshalb gelte es vor dem Finale mehr denn je, „sich nicht zurückzulehnen, denn wir wollen etwas Episches schaffen“.
Er selbst sei jedenfalls in Form, unabhängig davon, dass er in Saudi-Arabien spielt, was die Skepsis spanischer Medien begründet hatte. „Ich sage nicht, dass die Saudi-Liga besser ist als die spanische“, sagt Laporte. „Aber es wird dort immer noch Fußball gespielt. Es gibt einen Ball, hinter dem man herlaufen muss, und ziemlich viele Meter, die man auch dort zurücklegen muss.“ Dass an seinem Fitnesszustand von jenen Kritikern gezweifelt wurde, die er nun hat verstummen lassen, ging ihm gehörig auf die Nerven. „Ich habe Extraschichten eingelegt, wenn es nötig war.“ So wie er es immer gehalten habe.
Dass ihn De la Fuente in den Kader berief, habe ihn nicht überrascht. „Ich spiele jetzt seit zwölf Jahren auf Erstliganiveau. Die Leute wissen, wozu ich imstande bin. Es ist nicht nötig, mich jeden Tag zu verfolgen, um sicher zu sein, dass Aymeric Laporte sich der Mannschaft verpflichtet fühlt. Ich bin hier, weil ich in guter Verfassung bin. Ich wäre sonst der Erste, der sagen würde: ‚Verzeih, aber ich bin nicht in einem guten Zustand.‘ Doch das ist nicht der Fall.“
Was am Ende, ohne das Wort erwähnt zu haben, zu den Vorurteilen führt, mit denen er zu kämpfen hatte. Er könne es ein wenig nachvollziehen, dass es „aus gewissen Kreisen“ Vorbehalte gebe gegen Menschen, die ihre Nationalität aufgeben, so wie er es getan hat. „Aber nach meinem Verständnis mache ich alles, um dieses Land auf und neben dem Platz zu verteidigen. Es trägt Früchte. Ich bin sehr, sehr, sehr, sehr glücklich mit dem, was ich hier erreichen konnte. Und dann ärgert es einen schon, dass es noch diesen kleinen Hass gibt“, sagt Laporte. Zumal er wirklich Opfer gebracht hat: Vor zwei Monaten wurde sein zweiter Sohn geboren, er hat ihn seither nur sechs Tage gesehen. „Aber egal: Wenn wir das Turnier jetzt mit dem Titel abschlössen, es könnte nichts Besseres geben.“ Zumal dann viele Kritiker für immer verstummen würden.