Es dauerte keine zehn Minuten am Samstagabend, da war in Sankt Petersburg eine sportliche Frage, die diese Europameisterschaft prägen könnte, vorerst überzeugend beantwortet: Gelingt es Belgien, einem der großen Favoriten, auch ohne zwei seiner Hochbegabten das große Potenzial seiner rasanten Offensive zur Geltung zu bringen? Kevin De Bruyne ist angeschlagen, Eden Hazard kämpft mit seiner Form. Doch Romelu Lukaku, das war die Antwort, ist ja auch noch da. Er lauerte im Abseits, Russlands Verteidiger Andrej Semjonow fälschte einen Pass in seine Richtung unglücklich ab. Und der Stürmer von Inter Mailand schoss aus der Drehung das frühe 1:0.
Es war allerdings nur eine Geschichte dieses Abends, dass der Favorit Belgien gegen den Außenseiter Russland sein Auftaktspiel mit 3:0 (2:0) gewann. Nach seinem Tor schaute sich Lukaku um, er schien eine Kamera zu suchen, in die er eine Botschaft sprechen wollte, und er fand sie. "Chris, stay strong, I love you", rief er, an Christian Eriksen gerichtet, seinen Mitspieler in Mailand, der früher am Abend beim Spiel der Dänen gegen Finnland auf dem Feld hatte reanimiert werden müssen. Bleib stark, ich liebe dich, Lukaku nahm die Kamera in beide Hände, schaute direkt hinein. Er sagte im belgischen Fernsehen: "Es gab viele Tränen vor dem Spiel. Es war schwer, sich zu konzentrieren. Er hat zwei kleine Kinder, die ihn brauchen."
Diese Partie in Sankt Petersburg, der bei einem erlaubten Fassungsvermögen von rund 30 000 immerhin mehr als 26 000 Menschen im Stadion zuschauten, also wohl so viele wie noch nirgendwo in Europa in einem bedeutenden Fußballspiel seit Ausbruch der Pandemie, hatte ein Fest werden sollen: Ein Beweis für EM-Stimmung trotz Corona. Danach hatte es bereits am Nachmittag in der Innenstadt ausgesehen, zahlreich waren die Menschen auf den Straßen. Der 12. Juni ist in Russland Nationalfeiertag.
Klar, Russland war Außenseiter, hinzu kam ein positiver Corona-Fall kurz vor Turnierstart, es traf Mittelfeldspieler Andrej Mostowoi. Andererseits hatten ja auch die Belgier Verletzungssorgen. Artjom Dsjuba, Russlands Stürmer und Kapitän, wirkte fast ein wenig pikiert, als er vor der Partie nach dem bevorstehenden Kampf gefragt wurde. Kämpfen? "Fußball spielen", das sei der Plan, erklärte er. Dsjuba, das ist jener Hüne, der bei der Heim-WM 2018, als die Russen bis ins Viertelfinale vordrangen, drei Tore schoss.
Belgien protestiert gegen Rassismus, die Russen bleiben stehen
Doch über der Stimmung, die auch vor dem Stadion von Zenit Sankt Petersburg in den Stunden vor dem Spiel noch eine fröhliche war, hing dann vor dem Anpfiff ein Schleier der Ungewissheit ob der Geschehnisse in Dänemark. Ihre Gedanken seien bei Eriksen, das twitterten beide Verbände. Gespielt wurde dann trotzdem, selbst mit fröhlichem Vorprogramm, eine Frau am Stadion-DJ-Pult legte Bon Jovi auf. Und damit, dass sich beide Mannschaften in ihren Gedanken glichen, war es dann vor dem Anpfiff auch vorbei. Die Belgier knieten, wie es in diesen Tagen auch die Engländer, Schotten und Waliser tun, aus Protest gegen Rassismus. Im Stadion erklangen gellende Pfiffe aus Tausenden Kehlen. Die Russen blieben stehen.
Es war dann ein Spiel, das von Belgiens gar nicht mal ständig torgefährlicher, aber doch deutlicher Dominanz geprägt war. Auch ohne De Bruyne, der wegen seiner Gesichtsfraktur im Champions-League-Finale gar nicht erst Belgiens Teamquartier nahe Brüssel verlassen hatte, auch ohne den ebenfalls noch verletzten Dortmunder Axel Witsel und mit Eden Hazard zunächst auf der Bank.
Zwar wirkten die Russen zu Beginn bei manchen Gegenangriffen nicht ungefährlich: Es gab sie durchaus, die Situationen, in denen der Ball im Strafraum Dsjuba nahekam. Das Rufen der Menschen im Stadion wurde dann zu einem grellen Schreien, meist ebbte es aber schnell ab. Die beste Chance zum Ausgleich, Russlands einzige, vergab Mario Fernandes nach einer Ecke per Kopfball. Für variableres Angreifen, etwa schnelle Konter gegen Belgiens in die Jahre gekommen Abwehr, fehlte den Russen deutlich das Tempo.
Die Protagonisten des Abends sind Belgiens Offensivspieler
Stattdessen trafen die Belgier in der 34. Minute zum 2:0, ein Torwartfehler von Anton Schunin leitete das Tor ein, er boxte den Ball nach einer Hereingabe von Dortmunds Thorgan Hazard nach vorne, wo noch ein Dortmunder freistand und traf, Außenverteidiger Thomas Meunier. Er war früh eingewechselt worden für Timothy Castagne, nach einem heftigen Zusammenprall mit Daler Kusajew ging es für beide nicht mehr weiter. Castagne, der eine doppelte Fraktur im Gesicht erlitt, fällt für das Turnier aus, wie Trainer Roberto Martínez bestätigte.
Das Spiel blieb danach in manchen Szenen hart, Dsjuba rammte Jan Vertonghen um, auch Belgiens Kapitän war am Ende angeschlagen - und Russlands Kapitän kämpfte dann doch mehr, als zu spielen. Es wurde noch manchmal laut im Stadion, am Ende gab es La Ola, aber die Protagonisten des Abends blieben Belgiens Offensivspieler: Dries Mertens und Yannick Carrasco, die hie und da mit Dribblings zum Tor zogen; Eden Hazard, der für 20 Minuten ins Spiel kam. Und Lukaku natürlich, der Fixpunkt von jedem Angriff.
Sein Tor zum 3:0 kurz vor Schluss, nach einem Steilpass von Meunier, schoss er aus dem Sprint heraus. Sein Abschluss ins kurze Eck war mindestens so souverän wie beim 1:0. Und sein Jubel war diesmal eine Geste, die von seiner Klasse als Stürmer handelte: Er imitierte mit den Händen Pfeil und Bogen.