Süddeutsche Zeitung

EM-Qualifikation:Vor dem Urlaub noch ins Nagelstudio

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Beim 7:0 gegen Gibraltar endet das Nach-WM-Jahr für die DFB-Auswahl mit einem passenden Bild. Bundestrainer Löw muss wieder neu an den Qualitäten seiner Weltmeister feilen.

Von Christof Kneer, Faro

André Schürrle gehört nicht zu den Fußballern, denen man unterstellt, dass sie sich die Augenbrauen zupfen. Schürrle ist eher einer, den man sich auch in den Achtzigerjahren vorstellen könnte, die Haare müssten nur vorne etwas kürzer und hinten etwas länger sein, um ein glaubwürdiges Panini-Porträt abzugeben. Schürrle ist keiner, der gelehrt daherredet wie einige jener Kollegen, die in den modernen Fußballinternaten sozialisiert wurden, nach den Spielen spricht er klar, laut und verständlich. Nach dem 7:0 gegen Gibraltar im portugiesischen Faro sagte er zum Beispiel, dass "zwei von meinen drei Toren nur Abstauber waren"; er sagte auch, dass "das noch mal gut getan hat vor dem Urlaub". Er brauche jetzt "einfach Ruhe und dann geht's wieder von Neuem los".

Was man allerdings wissen muss: Selbst André Schürrle hat eine Nagelfeile dabei.

Wahrscheinlich ist es ja nichts Besonderes, dass jene Herrentäschchen, mit denen die Spieler hinterher durch die Mixed Zone laufen, vollständig ausgerüstet sind. "Natürlich", sagte Schürrle, sei auch bei ihm eine Nagelfeile drin. Man hat ja nie darüber nachgedacht, aber vermutlich ist man halt immer davon ausgegangen, dass in den Taschen ein Duschgel steckt und ein Shampoo und vielleicht noch I-phone, I-pad und I-pod. Aber: eine Nagelfeile?

Dreimal getroffen hat André Schürrle beim Schützenfest gegen Gibraltar.

Das Spiel: Schürrle ist es auch, der in der 28. Minute den Torreigen mit dem 1:0 eröffnet und den Pflichtsieg über Underdog Gibraltar initiiert.

Zuvor vergibt Kapitän Schweinsteiger in Minute zehn einen Elfmeter: Gibraltars Torwart Perez hält den schlecht platzierten Ball ohne Probleme.

Kurz nach der Pause erhöhen Kruse und Gündogan auf 3:0, ehe Karim Bellarabi (im Bild r. gegen Lee Casciaro) sogar das vierte Tor des Abends erzielt.

Das Bild des Tages: Nach dem 4:0 erwischen die Kameras Joachim Löw (r.), wie er auf jeglichen Torjubel verzichtet und lieber seine Fingernägel pflegt.

Maniküre auf der Trainerbank? Der Grund waren wohl die unter anderem von Mesut Özil (r. gegen Gibraltars Torwart Perez)...

...und Patrick Herrmann ( l. gegen Garcia) vergebenen Möglichkeiten zuvor. Bei so einer Chancenverwertung ist Löw mittlerweile sehr ungehalten.

Doch dann läuft es für das deutsche Team: Doppeltorschütze Max Kruse (l.) klatscht mit dem ebenso einmal erfolgreichen Ilkay Gündogan ab.

Trotz des am Ende hohen 7:0-Sieg über Gibraltar scheint Joachim Löw nicht vollends zufrieden - auch nicht mit seinen frisch gemachten Fingernägeln.

Nach der ersten Halbzeit war Löw gepflegt sauer: "Das war an der Grenze zur Arroganz!"

Die DFB-Elf hat nach zirka 47-minütiger Anlaufphase doch noch ein paar schmucke Tore hinbekommen gegen den kleinsten Gegner in der EM-Qualifikation, aber keines davon hat es zum Bild des Tages geschafft. Das Bild des Tages war der Bundestrainer, den die Kameras erwischten, wie er nach dem 4:0 durch Karim Bellarabi umständehalber auf Torjubel verzichtete. Er richtete sich stattdessen "einen eingerissenen Nagel", wie er später berichtete, mit Hilfe einer selbstverständlich auf der Trainerbank vorrätigen Nagelfeile.

Nur gut, dass Löw Weltmeister ist. Als Weltmeister dürfte er sich auf der Bank auch die Zähne putzen und die Haare waschen, er muss keinem mehr beweisen, dass seine Frisur auch bei Gegenwind sitzt. Nicht auszudenken aber, was Löws kleine Kosmetikeinlage vor zwei, drei Jahren mit der Nationalelf gemacht hätte: Sie hätte eine umfassende Debatte ausgelöst - über eine Elf, die das exakte Taschenspiegelbild ihres Trainers ist. Die gut aussieht und gut riecht, der aber sofort der Nagel abbricht, wenn der Gegner böse wird. Und über einen Trainer, der sich nicht wundern muss, wenn er draußen Maniküre sät und auf dem Platz Pediküren-Fußball erntet.

Der Bundestrainer hat diese Art der Unterstellungen 2014 in Brasilien überwunden, wo er mit Spielern triumphierte, die sich durch ständige Kopfballtore freiwillig die Frisuren ruinierten. In Brasilien triumphierte ein Team, in dem vier Vorstopper auf einmal schwitzten. Löw ist seit Rio kein Trainer für die Galerie mehr, er ist jetzt ein Wettkampfcoach, und so steht das Bild aus dem mobilen DFB-Nagelstudio in Faro nur noch ein kleines Bisschen für einen Trainer, dessen Sinn für Ästhetik sich manchmal allzu sehr in seiner Elf wiederfindet.

Das Bild steht jetzt vor allem - und im Wortsinn - für einen Trainer, der am Fußball seiner Elf herumfeilt. Und der, ganz Wettkampfcoach, auch mal gepflegt sauer werden kann, wenn es seine Mannschaft mit der Ästhetik übertreibt.

Er habe in der Halbzeit "etwas deutlich werden müssen", hat Löw später erzählt, "es gab nur ein einziges Thema: die Chancenverwertung. Was wir da ausgelassen haben, war an der Grenze zur Arroganz". Löw ist inzwischen ernsthaft ungehalten, wenn er seinen Özil wieder mal frei vor dem Torwart beim Flanieren erwischt, wie in der 44. Minute, als es Löw nach einer sorglos vergebenen Chance fast schon vorzeitig in die Kabine trieb. Er hat sich dann zusammengerissen und ist auf die Bank zurückgekehrt, gerade noch rechtzeitig, um zwei vergebene Chancen von Patrick Herrmann (44., 45.) miterleben zu dürfen.

Wer Löw in diesen Minuten beim Schimpfen zusah, der nahm ihm schon ab, dass die spätere Nagelpflege "nicht despektierlich gegenüber Gibraltar gemeint" war. Es war eher eine Art Übersprungshandlung, in Löw stritten mehrere Instinkte um die Deutungshoheit. Löw wollte das mit den Chancen ein wenig übel nehmen, einerseits; andererseits hatte er natürlich Verständnis für seine Spieler, deren Körperspannung im Laufe des langen Nach-WM-Jahres gelitten hat. So musste man sich etwa mit der Fachfrage auseinander setzen, ob Bastian Schweinsteigers gebrechlicher Elfmeter den Weg ins Tor gefunden hätte, selbst wenn kein Torwart drin gestanden hätte. Immerhin gelang Schweinsteiger der erste verschossene Elfmeter seit der WM 2010; damals vergab Podolski.

Im kleinen Algarve-Stadion in Faro lag noch einmal ein allerletzter roter Teppich für den Weltmeister aus Deutschland, aber Löw weiß, dass die WM 2014 jetzt endgültig enden und die EM 2016 jetzt endgültig beginnen muss: "Das erwartet schwere Jahr" bilanzierte der Bundestrainer nach dem Schlusspfiff, mit Verletzungen, Formkrisen und gebrechlichen Elfmetern, "wir hatten nicht die Souveränität der Jahre zuvor. Aber wir kennen unsere Probleme und werden sie nach der Pause angehen." Die Mannschaft, versprach Löw vor dem stürmischen Herbst mit Spielen gegen Polen, in Schottland und Irland, werde "wieder in die Spur kommen, weil sie großes Potenzial hat. Das werden wir wieder abrufen".

Löw hat beschlossen, dass er verzeihen kann, nicht nur, weil Schürrle (3 Tore), Kruse (2), Bellarabi und Gündogan dem Gegner am Ende doch noch das pflichtgemäße Debakel zufügten. Löw wird angetrieben vom Gedanken an eine kleine Ära, wie die von ihm hochverehrten Spanier möchte er einem großen Titel gleich den nächsten folgen lassen, und immerhin hat ihm dieses schwere Jahr gezeigt, welchen Weg er mit seinen Weltmeistern gehen muss. Er wird versuchen, ihnen die gelegentlichen Pediküre-Anfälle einer Ballbesitzmannschaft auszutreiben, er will ihnen das vergessene Stilelement des Konters zurückbringen und die Torgefahr schärfen.

Gut, dass Löw seine Nagelfeile immer griffbereit hat. Er wird im kommenden Jahr ein gutes Händchen brauchen.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2015
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