EM:Nägelkauen im Orkan

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Sah eher traurig aus als elegant: Mats Hummels im schwarzen DFB-Trikot. (Foto: MIS/Imago)

Kurz vor dem Nervenzusammenbruch gewährt die DFB-Elf ihrem Trainer einen Aufschub vom Amtsende.

Von Ulrich Hartmann, München

Die Szenerie war wie entworfen für eine sportliche Tragödie. Deutschland spielte im strömenden Regen ganz in Schwarz. Das Schwarz der Trikots sollte ursprünglich etwas Elegantes haben. Aber solange die Mannschaft gegen Ungarn zurücklag, glich dieses Kollektiv einem Trauerzug.

Der Himmel weinte, und wenn man die Regenmenge bedachte, dann hatte der Himmel über München sogar einen Nervenzusammenbruch. Lange stand Joachim Löw am Spielfeldrand wie ein begossener Pudel.

Der für Mainz in der Bundesliga spielende Adam Szalai hatte Ungarn in Führung gebracht. So ein Rückstand kann immer mal passieren. Für das deutsche Team war es im dritten Spiel bei dieser EM schon der dritte 0:1-Rückstand. Fast normal also. Das Problem war, dass die Deutschen sich vorne so unendlich schwer taten.

Unter normalen Umständen hätte Löw in solch einem Spiel halbwegs entspannt sein dürfen. In zuvor 196 Länderspielen als Bundestrainer seit 2006 hatte er mit dieser Mannschaft schließlich schon alles erlebt: Triumphe, Enttäuschungen, Langeweile, Dramatik. Immer wieder aber eben auch Spiele zum Nägelkauen. Dass man aber ausgerechnet gegen Ungarn, den 37. der Weltrangliste, in einem Heimspiel würde Nägel kauen müssen, das hatte niemand erwartet.

Dabei hatten schon vor der EM alle gewusst, dass ab dem dritten Gruppenspiel jedes Spiel das letzte sein könnte für diesen Bundestrainer - jenen Bundestrainer, der nach Sepp Herberger am zweitlängsten im Amt ist, einem von vier Bundestrainern nach Sepp Herberger (1954), Helmut Schön (1974) und Franz Beckenbauer (1990), die Deutschland zum WM-Titel führten (2014). Doch Wehmut hatte sich bis zuletzt keine eingestellt. Weil sich niemand eingestehen wollte, dass nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 in Russland genau dies auch bei der EM 2021 passieren könnte.

Als um 22.05 Uhr bei 0:1-Rückstand die zweite Halbzeit angepfiffen wurde, hatte Löw noch ungefähr 50 Minuten im Amt. Eigentlich würde man seine letzten 50 Minuten als Bundestrainer genießen wollen. Aber Löw konnte nichts genießen. Fast bis zum Schluss fehlte irgendwo ein Tor, um ein weiteres Spiel Aufschub zu bekommen: entweder ein Tor für seine eigene Mannschaft oder ein Tor für Frankreich im Parallelspiel gegen Portugal. Es war eine unwürdige Situation für Löw.

In Budapest wechselte die Führung zwischen Portugal und Frankreich hin und her. Auch in München ging es drunter und drüber. Mal war Deutschland drin, mal draußen. Löws Emotionen wurden umhergewirbelt wie in einem Orkan. Der Orkan beruhigte sich erst um 22.43 Uhr. Leon Goretzka erzitterte den 2:2-Endstand. Löw bekommt Aufschub. Am Dienstag in Wembley gegen England. Dann geht das Drama von vorne los.

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