Englands Harry Kane:Bis die Tribünen wackeln

Englands Harry Kane: Die EM für England im Blick - und in Gedanken schon bei seinem neuen Arbeitgeber? Harry Kane posiert im Trainingslager der britischen Nationalmannschaft.

Die EM für England im Blick - und in Gedanken schon bei seinem neuen Arbeitgeber? Harry Kane posiert im Trainingslager der britischen Nationalmannschaft.

(Foto: Kevin Quigley/AFP)

Die Engländer ziehen mal wieder als Mitfavorit ins Turnier - auch weil sie in Harry Kane einen Weltklasseangreifer aufbieten, der schon jetzt über die EM hinaus von sich reden macht.

Von Sven Haist, London

Die Tränen sind bei Harry Kane inzwischen getrocknet, aber die Erinnerung an seine lap of honour, seine hoch emotionale Ehrenrunde vor vier Wochen, hat sich tief ins Gedächtnis gebrannt. Nach dem letzten Saisonheimspiel der Premier League lief der 27-Jährige allein durchs Stadion von Tottenham Hotspur, um sich bei den Fans für die Unterstützung zu bedanken, vor allem aber, um sich von ihnen zu verabschieden, es sah zumindest schwer danach aus. Ein paar Tage zuvor hatte Tottenhams Rekordtorschütze, 221 Treffer in 336 Pflichtspielen, seine Absicht durchschimmern lassen, den Klub im Sommer verlassen zu wollen: nach 17 Jahren.

Als Elfjähriger schloss sich Kane 2004 der Nachwuchsabteilung der Spurs an, der Stadtrivale FC Arsenal hatte sein Talent nicht erkannt. Seitdem durchlief er alle Juniorteams des Klubs, erspielte sich nach Leihstationen bei unterklassigen Vereinen im Herbst 2014 einen Stammplatz im Profiteam unter seinem Förderer Mauricio Pochettino. Ein paar Monate später, im Februar 2015, fing sein Stern sehr hell zu strahlen an: Im North-London-Derby schoss Kane die Spurs mit einem Doppelpack zum 2:1. Gegen Arsenal, na klar.

Nach dem Siegtreffer wackelten die Tribünen an der alten White Hart Lane. "He is one of our own", riefen die Fans durchs Stadion - er ist einer von uns! Dieses Gefühl, sagte Kane damals, werde er für den Rest des Lebens nicht vergessen. Der Moment mit den Zuschauern gehörte ihm allein - wie jetzt kürzlich nach dieser für die Spurs ernüchternden Spielrunde, wieder einmal.

Der siebte Platz in der Premier League bringt Tottenham nur die Teilnahme an der neuen Conference League ein, nach der Champions League und Europa League lediglich die drittgrößte Bühne in Europa. In diesem Wettbewerb könnte der Klub in der nächsten Saison auf den Vierten der gibraltarischen Liga treffen. Eine solche Bekanntschaft möchte sich Kane offenbar ersparen. Kürzlich erzählte er, wie sehr er die hervorragenden Leistungen der nationalen Mitbewerber in der Königsklasse bewundere. Das seien die Spiele, in denen er dabei sein wolle.

Ein englischer Weltklasseangreifer, der in England spielt - das ist eine Rarität

Sein vorsichtiger, aber klar vorgetragener Abschiedswunsch bestimmt seither die Schlagzeilen auf der Insel, selbst in diesen Tagen, da sich Kane mit der Nationalmannschaft auf den EM-Auftakt gegen Kroatien im Wembley Stadion am Sonntag vorbereitet. Ein englischer Weltklasseangreifer, der noch dazu in England spielt, ist auch für das Mutterland des Fußballs eine Rarität - in dieser Größenordnung hat es das nur bei Wayne Rooney, Alan Shearer, Gary Lineker und Weltmeister Bobby Charlton gegeben. Kaum ein Tag vergeht ohne Gerüchte über ein sich anbahnendes Großgeschäft. Allerdings besitzt Kane einen Arbeitsvertrag bis 2024, was die Frage aufwirft: Erteilt ihm Tottenhams Klubchef Daniel Levy die Freigabe? Falls ja, zu welchen Konditionen? Wahrscheinlich ist ein Umzug nach Manchester, die zahlungsfähigen Stadtnachbarn City und United buhlen um den Torjäger.

Mit Gewissheit lässt sich jedenfalls nur prognostizieren, dass Kane bei einem Wechsel zum teuersten britischen Spieler der Geschichte avancieren würde. Die Ablösesumme wird auf 150 Millionen Euro taxiert, nur der Brasilianer Neymar Junior hätte bei seinem Transfer 2017 aus Barcelona zu Paris Saint-Germain dann noch mehr Geld gekostet: 222 Millionen. Ein einstiger Weggefährte, der dazu einiges sagen kann, ist Kevin Wimmer, heute Innenverteidiger bei Rapid Wien, von 2015 bis 2017 Teamkollege Kanes bei den Spurs. "Wenn Harry sich nicht zu 'Tottenham fürs ganze Leben' bekennt", sagt Wimmer am Telefon, "dürfte jetzt der Zeitpunkt sein, ein anderes Angebot anzunehmen. Ich halte den Wechsel für sehr wahrscheinlich und schätze den Klub so ein, dass ihm das auch ermöglicht wird."

Premier League - Leicester City v Tottenham Hotspur

Ein letzter Abschiedsgruß? Tottenhams Heung-min Son umarmt Harry Kane nach dessen vielleicht letzten Spiel für die Spurs.

(Foto: Mike Egerton/Pool via Reuters)

Kanes ungeklärte Zukunft ist ein Segen für die englische Nationalmannschaft, die sich im Trainingszentrum St. George's Park für die EM einquartiert hat. Als Mitfavorit - diesmal nicht nur aus Sicht der Landsleute, die England immer für einen Titelanwärter halten - kann sich das Team um Trainer Gareth Southgate ungestört auf die Neuauflage des WM-Halbfinals von 2018 einstimmen, England schied damals nach Verlängerung aus, 1:2. Besonders den gehypten Samtfüßen Marcus Rashford (Man United), Phil Foden (Man City), Mason Mount (Chelsea) und Jadon Sancho (Dortmund) hilft die weitgehende Absenz der wenig zimperlichen Inselmedien. Das Land, glaubt Wimmer, schaue nur auf Kane: "Dennoch habe ich keine Bedenken, dass ihn die Situation nervlich belasten könnte", sagt der 28-Jährige. Kane trage die Mentalität eines Führungsspielers in sich: "Er ist ruhig und sachlich. Dadurch wirkt er älter, als er ist. Man denkt immer, er könnte schon Trainer sein, weil man ihm alles abkauft."

Kane wurde im Londoner Stadtteil Walthamstow geboren, mit 27 Jahren zählt er bereits zu den Routiniers in der Nationalelf, deren Altersschnitt knapp unter 25 liegt. Trotzdem ist das Personal an Titeln umfangreich ausgestattet: Bis auf drei Spieler hat jedes Mitglied schon mal einen Pokal in den Händen gehalten, entweder mit dem Klub oder den Juniorennationalteams. Nur Torwart Jordan Pickford und Mittelfeldmann Declan Rice nicht. Und Harry Kane.

Er schied mit Tottenham zweimal im Halbfinale des FA Cups aus, scheiterte 2015 und 2021 im Endspiel des League Cups, verlor das Champions-League-Finale 2019 und verpasste 2016 und 2017 knapp die Meisterschaft. "Harry lebt diesen Verein und spielt stets für die Fans. Sein Ziel ist es, Tottenham endlich einen Titel zu schenken. Das liegt ihm mehr am Herzen als individuelle Erfolge", sagt Wimmer. Besonders schmerzhaft sei das 2:2 bei Chelsea gewesen, das Tottenham vor fünf Jahren am drittletzten Spieltag den Titel kostete: "Wir waren am Boden zerstört, weil wir die Sensation vor Augen hatten. Obwohl Harry erst 22 war, hat er in der Kabine später alle abgeklatscht und versucht, den Blick sofort wieder nach vorne zu richten."

Begabt und bescheiden - Kane hat seinen Reichtum niemals zur Schau gestellt

Entgegen aller Enttäuschungen hat Kane immer weiter an seinem Spiel gefeilt. Seit 2014 gelangen ihm jeweils über 20 Tore pro Saison, in der abgelaufenen Spielzeit kam er neben 33 Treffern erstmals mit 17 Assists auf eine zweistellige Anzahl an Vorlagen. 50 Torbeteiligungen, ein persönlicher Rekord. Wimmers Analyse: "Ich habe selten einen Spieler gesehen, der mit rechts und links ähnlich gut schießen kann wie er. Harry schießt sogar mit seinem schwachen Fuß besser als 80 Prozent der Fußballer mit ihrem starken Bein. Seine Ballannahme ist nahezu perfekt, egal wie der Ball zu ihm kommt." Welche Fähigkeit ihm am meisten imponiert? "Wenn er im Spiel ein Tor erzielt hat, strengt er sich am nächsten Tag im Training umso mehr an, um das zu bestätigen und einen draufzusetzen."

Auch deshalb akzeptieren sie ihn auf der Insel, dazu wegen seiner Bescheidenheit. Nie ist er während seiner Profikarriere mit seinem Reichtum hausieren gegangen, mit seiner Jugendliebe und jetzigen Frau Katie hat er drei Kinder. "So wie er ist, stelle ich mir einen Fußballprofi vor. Mehrmals waren wir Abendessen in London. Kein einziges Mal hat Harry einem Fan ein Autogramm verweigert. Er hatte viele Möglichkeiten, Tottenham für einen besseren Klub zu verlassen. Aber er hat dem Klub stets die Treue gehalten. Das beschreibt seinen Charakter."

Kaum ein Fan der Spurs wird ihm deswegen verübeln, dass er seinen Kindheitsverein bald doch für seinen Titeltraum verlassen könnte. Als Kane zuletzt auf seine vermeintliche Abschiedsrunde einbog, feierten ihn die Menschen frenetisch. Wieder einmal.

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