Süddeutsche Zeitung

DFB-Gegner Frankreich:Ein grimmiger Halbsatz und seine Folgen

"Die Bälle kommen nicht": Ersatzstürmer Olivier Giroud wirft vor dem EM-Auftakt öffentlich die Frage auf, ob Frankreichs Leistungsträger Kylian Mbappé vor dem Tor zu eigensinnig ist.

Von Claudio Catuogno

Der "Faktencheck" ist inzwischen eine etablierte journalistische Stilform, insofern war es keine Überraschung, dass die französische Sportzeitung L'Équipe prompt dem Wahrheitsgehalt jenes Halbsatzes auf den Grund gegangen ist, der nun doch noch ein bisschen Unruhe in die französische Nationalelf getragen hat, wenige Tage vor dem EM-Auftakt gegen die Deutschen. Also, Faktencheck: "Wurde Olivier Giroud gegen Bulgarien wirklich so schlecht bedient?" Es folgen umfassende Ermittlungen.

Dass Olivier Giroud, 34, Stürmer vom FC Chelsea, überhaupt von Anfang an mitspielen wird am Dienstag in München gegen die Deutschen, davon ist erst mal nicht auszugehen. Das furchterregende französische Offensivtrio, das den Bundestrainer Joachim Löw vermutlich sogar in seinen Träumen Dreier-, Vierer- und Fünferketten bauen lässt, besteht schließlich aus Kylian Mbappé, 22, von Paris Saint-Germain, Antoine Griezmann, 30, vom FC Barcelona und dem nach fünf Jahren begnadigten Karim Benzema, 33, von Real Madrid. Aber weil Benzema im letzten Testspiel der Franzosen, einem 3:0 am Dienstag im Stade de France gegen Bulgarien, in der 41. Minute nach einem Schlag aufs rechte Knie ausgewechselt werden musste, kam doch wieder "der ewige Giroud" (L'Équipe) zum Einsatz. Er erzielte in der 83. und der 90. Spielminute seine Länderspieltore Nummer 45 und 46, wodurch ihm jetzt nur noch fünf Treffer fehlen, um zum bisherigen Rekordschützen der Bleus aufzuschließen, 1998er-Weltmeister Thierry Henry (51 Tore).

"Aber die Bälle kommen nicht an": In der Analyse von Chelsea-Stürmer Giroud steckt eine Menge Spaltpotenzial

Alles gut also, sollte man meinen: Wenn auch Angreifer Nummer vier in Form ist, kann ja erst recht nichts mehr schiefgehen bei der Mission, nach dem WM-Titel auch noch den EM-Pokal nach Frankreich zu holen. Aber dann kam nach dem Abpfiff das Gespräch darauf, dass von Giroud bis zum späten Doppelpack doch etwas wenig zu sehen gewesen sei. Oder? Ja, antwortete der ewige Giroud: "Manchmal bringt man sich in Stellung, aber die Bälle kommen nicht."

Aber die Bälle kommen nicht. Damit war der Halbsatz in der Welt, der nun aus allerlei Perspektiven auf sein Spaltpotenzial abgeklopft werden kann. Denn es war ja offensichtlich, was Giroud hier thematisierte: den vermeintlichen Egoismus von Sturmpartner Mbappé, der oft lieber selbst schießt, als den Pass zum Mitspieler zu wählen, und der bei seiner Auswechslung kurz vor Schluss gegen Bulgarien so grimmig dreinschaute, als fühle sich für ihn ein Sieg ohne eigenen Treffer wie eine Niederlage an.

Mbappé soll über Girouds Vorwurf so erregt gewesen sein, dass er tags darauf im Quartier in Clairefontaine-en-Yvelines bei Paris eigens eine Pressekonferenz einberufen wollte, um sich dazu zu äußern - das hat der Nationaltrainer Didier Deschamps, 52, klugerweise zu verhindern gewusst. Deeskalieren lautet Deschamps' Strategie in der Sache: Bei Girouds Analyse sei es gar nicht um eine "Stigmatisierung" von Mbappé oder einem anderen Spieler gegangen.

Und damit zu den Faken, denn das ist ja tatsächlich eine interessante Frage: Haben die Mitspieler Olivier Giroud in der Luft hängen lassen? Zum Beispiel, weil sie ihm misstrauen nach seiner eher frustrierenden Saison bei Chelsea, die er weitgehend auf der Bank verbrachte? Nicht wirklich, steht als Fazit am Ende der fußballforensischen Ermittlung: Allein in der 44. Minute sei Giroud kurz nacheinander von Paul Pogba, Mbappé und Benjamin Pavard bedient worden. Und dass er später eine Zeitlang wie abgetaucht wirkte? Nun, da habe es jeweils vielversprechendere Lösungen gegeben. Keinesfalls sei es auffällig oft Mbappé gewesen, der den Ball lieber selbst verwertete, vielmehr hätten auch die Ballverteiler im Mittelfeld, vor allem Pogba und N'Golo Kanté, jeweils aus schlüssigem Grund andere Optionen gewählt als den Pass zu Giroud.

Danke, liebe Équipe, für die Beweisführung. Thema erledigt? Eher nicht.

"So langsam wird es peinlich", sagt Johan Micoud über Kylian Mbappé

Zwar muss sich Giroud jetzt wieder in seine Rolle als Joker fügen: Die Blessur von Benzema, der zwischenzeitlich mit dem Training pausierte, stehe seinem Einsatz gegen Deutschland nicht im Wege, heißt es. Aber aus der Giroud-Debatte ist nun zumindest in den französischen Medien eine mindestens halbgroße Mbappé-Debatte geworden, zumal Beobachter am Trainingsgelände gesehen haben wollen, dass er auf Girouds Versuche, die Sache mit einem freundlichen Gespräch aus der Welt zu schaffen, eher reserviert reagiert habe.

Der ehemalige Bremer Johan Micoud, 47, inzwischen ein geschätzter TV-Experte, schwenkte den Scheinwerfer sogar mit relativ deftigen Worten hinüber auf Mbappé und sein Gegrummel: "So langsam wird es peinlich", meinte er, "du hast zwei Vorbereitungsspiele absolviert, die gut gelaufen sind, und wenn du vom Platz gehst, macht es nach außen den Eindruck, als hättest du 0:4 verloren."

Statt Mbappé saß am Donnerstag, wie angekündigt, Paul Pogba auf dem Podium vor dem Stream - und mühte sich auf die ihm eigene Art, das Thema herunterzuspielen. Spannungen? "Die einzigen Spannungen haben wir am Rücken und in den Beinen", witzelte er, und die würden die Physiotherapeuten schon lösen. "Die Stimmung war mit allen immer großartig, es gibt nur Lachen, Musik und Massagen", versicherte Pogba. Ob das in den kommenden Wochen so bleibt, wird am Ende sicher auch von Jogi Löws Fünferkette abhängen.

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