Wer diese blaue Plastikplane ausgesucht hat, weiß der Himmel. Vermutlich hatte da jemand aus dem hellenischen Götterhimmel seine Finger im Spiel. Es war in jedem Fall eine griechisch-blaue Bodenmatte, auf der am Freitag in Warschau die Fußball-Europameisterschaft 2012 eröffnet wurde. Es sollte nicht der einzige Achtungserfolg der Gäste an diesem Tag bleiben. Griechenland rang den Polen ein umkämpftes 1:1 (0:1) ab, nachdem sie zwischenzeitlich schon wie der sichere Verlierer ausgesehen hatten, denn ab der 44. Minute standen nur noch zehn Griechen auf dem Rasen. Die aber hielten tapfer durch.
Das war unsere eigene Schuld, dass wir nicht gewonnen haben", klagte Polens Dortmunder Angreifer Robert Lewandowski über den verpassten Traumstart: "Wir hätten 2:0 oder 3:0 führen können. Dann wär's anders gelaufen." Genauso ernüchtert war sein Vereinskollege Lukasz Piszczek: "Vielleicht waren wir nach dem Tor und der Roten Karte zu relaxt." Ihr Trainer, Franciszek Smuda, ärgerte sich ebenso, gab dann aber zu bedenken, dass sein Team eben auch noch etwas unerfahren ist. Sein Resümee klang durchaus versöhnlich: "Das 1:1 ist nicht das Ende der Welt."
Nach einer kurzen, unspektakulären Zeremonie, die mit lieblichen Klavierklängen aus der Feder des polnischen Nationalmusikers Frederik Chopin untermalt war, übernahm zunächst die rot-weiße Karnevalsgesellschaft auf den Rängen die Beschallung der Veranstaltung. Anhänger aus dem krisengeplagten Griechenland waren nur schwer mit dem bloßen Auge auszumachen und noch schwerer zu hören. Abgesehen von dem einen oder anderen Gästespieler unten auf dem Geläuf und der Eröffnungs-Plastikplane waren die Polen praktisch unter sich an diesem Abend. Es sollte ja schließlich auch ihr Abend werden. Ein Irrtum.
Besonders deutlich war die polnische Dominanz von Beginn zunächst auf der rechten Angriffsseite, der sogenannten Dortmunder Flanke. Lukasz Piszczek, Jakub Blaszczykowski und Robert Lewandowski spielten im Nationaldress tatsächlich so weiter, als wäre die Bundesligasaison nie zu Ende gegangen. Und Griechenlands bedauernswerter Linksverteidiger José Holebas muss sich vorgekommen sein, als müsse er ganz alleine gegen den deutschen Meister antreten.
Das erste EM-Tor hätte nicht idealtypischer für die erste EM-Halbzeit sein können: Pässchen Blaszczykowski, Flanke Piszczek, Kopfball Lewandowski. Die gesamte Ersatzbank kam angerannt, um dem Torschützen zu huldigen. Nach 17 Minuten sah es kurzfristig so aus, als wären die Polen bereits ins Finale eingezogen. So weit ist es jetzt aber nicht einmal im Ansatz. Zunächst jedoch war schon viel Erleichterung in Warschau zu spüren, dass die schwarz-gelbe Dortmunder Angriffsmaschinerie ohne Überbrückungsverluste einfach in Rot-Weiß weiterlief.
Das war auch deshalb bemerkenswert, weil dieses Spiel bei subtropischen Witterungsverhältnissen begann. Während eines kurzen Platzregens am Nachmittag hatte das geschlossene Dach des neuen Nationalstadions beste Dienste geleistet. Wenig später brannte allerdings schon wieder die schönste EM-Sonne auf den Arenadeckel. Und als schließlich die Mannschaften aufliefen, herrschte in der Arena eine Luft wie im Hallenbad.
Das ein oder andere Lüftungsfensterchen hätte am Anfang vor allem dem Spiel der Griechen gutgetan. Deren portugiesischer Trainer Fernando Santos vertritt ja die These, er verantworte die beste Defensive des gesamten EM-Feldes. Bereits nach wenigen Augenblicken kamen daran erste Zweifel auf. Die Polen entdeckten immer wieder erstaunliche Lücken im griechischen Mauerwerk. Ärgern mussten sich die Gastgeber lediglich darüber, dass sie sich nicht schon in den ersten 45 Minuten ihre ersten drei Punkte sicherten. Murawski (5.), Blaszczykowski (12.) und Lewandowski (14.) scheiterten nur denkbar knapp vor dem Tor von Kostas Chalkias.
Polnische Elf in der Einzelkritik:Opfer der Flugente im Strafraum
Torwart Wojciech Szczesny sollte die Nation retten, doch dann schwirrt er chaotisch umher und muss sich bei einem neuen Helden bedanken. Die drei Dortmunder Polen beginnen borussenhaft, Robert Lewandowski schießt das erste Tor der EM - nach der Pause verlieren aber auch sie den Mut. Die polnische Elf beim 1:1 gegen Griechenland in der Einzelkritik.
Santos brachte noch vor der Pause Papadopoulus für Papadopoulus, aber auch mit diesem feinen Trick konnte er die polnische Offensivabteilung nicht verwirren. Im Gegenteil, der eingewechselten Kyriakos Papadopoulus vom FC Schalke legte dem polnischen Abwehrspieler Damien Perquis mit seinem ersten Ballkontakt eine vorzügliche Schusschance auf. Und wieso Perquis bei dieser Gelegenheit nicht auf 2:0 erhöhte, wissen wohl griechische Götter.
Polnische Elf in der Einzelkritik:Opfer der Flugente im Strafraum
Torwart Wojciech Szczesny sollte die Nation retten, doch dann schwirrt er chaotisch umher und muss sich bei einem neuen Helden bedanken. Die drei Dortmunder Polen beginnen borussenhaft, Robert Lewandowski schießt das erste Tor der EM - nach der Pause verlieren aber auch sie den Mut. Die polnische Elf beim 1:1 gegen Griechenland in der Einzelkritik.
Auch die dürften allerdings die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, als der spanische Schiedsrichter Carlos Velasco Carballo kurz vor der Pause den griechischen Verteidiger Sokratis von Werder Bremen nach einem harmlosen Zweikampf mit Gelb-Rot vom Platz stellte. Spätestens an dieser Stelle schien der Weg zum ungefährdeten polnischen Sieg vorgezeichnet zu sein. Und dann kam doch alles anders.
Nach dem Wechsel übernahm auf einmal der griechische Kapitän Giorgos Karagounis die Hoheit über das Spiel. Wo eben noch Dortmund war, war plötzlich gar nichts mehr. Und wo eben noch das polnische Zentrum war, war plötzlich der stolze EM-Sieger von 2004. Das 1:1 ging dann aber zu großen Teilen auf die Kappe des polnischen Keepers Wojciech Szczesny. Er tauchte unter eine harmlosen Flanke hindurch und der eingewechselten Dimitris Salpingidis musste nur noch einschieben.
Und der Abend wurde nicht besser für Szczesny. Bei der nächsten Großchance von Salpingidis holte er den Griechen formlos von den Beinen und sah Rot. Somit war die ungerechtfertigte numerische Überlegenheit der Polen auch schon wieder weg. Das ganze schien jetzt dramatische Züge anzunehmen für die Gastgeber. Es wurde dann aber erst einmal dramatisch für Karagounis. Der beste Spieler der zweiten Hälfte scheiterte mit seinem Strafstoß am frisch eingewechselten polnischen Ersatztorwart Przemyslaw Tyton.
Gleichwohl lag jetzt eine seltsame Atmosphäre in der Warschauer Hallenbadluft. Niemand wusste mehr so recht, ob er lachen oder weinen sollte. Es war, als ob jemand das polnische EM-Projekt von Trainer Franciszek Smuda wieder zurück auf Null gesetzt hätte. Smuda hatte in den zurückliegenden zwei Jahren mit erheblichen Widerständen im eigenen Land zu kämpfen gehabt. Sein Spielsystem und seine Nominierungspolitik erschlossen sich weder den gemeinen Fußballfans noch den kritischen Beobachtern.
Smudas Dauerkritik an der heimischen Liga und sein offensichtliches Faible für Auswahlspieler mit ausländischem Arbeitgeber brachten ihm dem Vorwurf des Vaterlandsverrats ein. Wenige Wochen vor dem Turnierbeginn war die Stimmung in Polen allerdings komplett ins Euphorische gekippt. Diese Volte lässt sich relativ genau auf den Tag datieren, als Robert Lewandowski im deutschen Pokalfinale einen Hattrick erzielte. Wer drei Tore gegen den FC Bayern schießt, der macht auch die Griechen platt, so die allgemeine Auffassung.
Am Ende blieb von diesem Eröffnungsspiel aber ein 1:1 und der Eindruck zurück: Ein Lewandowski macht noch keinen EM-Sommer.