Der frühere Stürmer Igli Tare, 50, kann auf eine der außergewöhnlichsten Karrieren im Fußball zurückblicken: Er floh Anfang der 1990er-Jahre, kurz nach seinem Erstligadebüt für FK Partizan Tirana, aus dem damals kommunistischen Albanien nach Deutschland – stundenlanger Marsch durch meterhohen Schnee inklusive. In Deutschland beantragte er politisches Asyl, verrichtete Gärtnerarbeiten – und schaffte es doch in den Profifußball. Über die Stationen Südwest Ludwigshafen, VfR Mannheim, Fortuna Düsseldorf, Karlsruher SC und 1. FC Kaiserslautern ging es weiter nach Italien. Von 2001 an spielte Tare je zwei Jahre für Brescia, Bologna und Lazio Rom.
Bei Lazio erarbeitete er sich nach der aktiven Karriere von 2009 bis 2023 als Sportdirektor einen guten Ruf, auch jenseits der Grenzen Italiens. Auch in Deutschland fällt sein Name immer wieder, wenn irgendwo ein Sportdirektor gesucht wird – vor ein paar Jahren bei Eintracht Frankfurt, und auch bei RB Leipzig wurde er schon gehandelt. Am Telefon sagt Tare, konkrete Pläne für eine Rückkehr habe er nicht: „Aber wenn sich die Möglichkeit wieder ergeben sollte, eines Tages – warum nicht?“
SZ: Herr Tare, Albanien hat bei der EM so schnell wie keine andere Mannschaft für Furore gesorgt: Nedim Bajrami (Sassuolo Calcio) erzielte im Auftaktspiel gegen Italien das schnellste Tor der EM-Geschichte – nach 23 Sekunden. Dann aber kam Italien zurück und siegte 2:1. Hat Sie das ernüchtert?
Igli Tare: Unsere Mannschaft hat nach dem Tor in der ersten Halbzeit nicht gut gespielt, in der zweiten lief es etwas besser. Wissen Sie, diese albanische Mannschaft hat große Qualität. Sie hat die Qualifikationsrunde nicht von ungefähr als Gruppenerster beendet. Sie hat nur keine Erfahrung mit dieser Art von Turnieren, und das war gegen Italien das Problem. Sie haben angefangen, abzuwarten und tief zu verteidigen. Aber das ist eine Mannschaft, die das nicht kann. Und ja, das hat mich schon enttäuscht.
War das ein Coaching-Fehler von Trainer Sylvinho?
Er hat einen wirklich guten Job in der Qualifikation gemacht – ohne Zeit zu haben, um mit diesem Team richtig zu arbeiten. Auch wenn ihm noch etwas Erfahrung bei so einem Turnier fehlt: Ich habe etwas mehr von ihm erwartet.
Nämlich?
Mehr Persönlichkeit. Wir müssen bei diesem Turnier vor allem viel Erfahrung sammeln, aber auch mit Persönlichkeit spielen. Unsere Mannschaft hat doch nichts zu verlieren! Sie wurde gegen drei Teams gelost, die nicht nur Favoriten auf den Gruppensieg sind, sondern alle auch Titelkandidaten: Italien, Kroatien, Spanien – die stehen für mich in einer Reihe mit Deutschland. Wirtz und Musiala sind einfach top – und Füllkrug! Denen merkt man an, dass die richtig Spaß haben am Fußballspielen.
Ist es für Albanien nicht Erfolg genug, dabei zu sein? Es ist nach der EM 2016 erst die zweite Teilnahme an einem großen Turnier.
Wir haben sehr lange auf diesen Moment gewartet, das stimmt. Wir sind auf einem guten Weg, und natürlich wollen wir bei dieser EM auch Erfahrungen sammeln. Aber wenn wir bestehen wollen, müssen wir uns gegen Mannschaften wie Italien gewaltig steigern.
Sie spielen am Mittwoch gegen eine kroatische Mannschaft, die ihr Auftaktspiel gegen Spanien 0:3 verloren hat. Hat Sie die Deutlichkeit der Niederlage überrascht?
In meinen Augen hatte Kroatien nur einen schlechten Tag. Spanien ist eine sehr erfahrene Turniermannschaft, mit Spielern, die Topqualität haben, mit denen werden sie es unter die Top vier schaffen. Ich erwarte gegen Kroatien ein physisches Spiel. Unser Team muss sich defensiv verbessern. Vor allem vorn muss sich jeder für das Team mit Verteidigungsarbeit aufopfern, bis zur Erschöpfung. Wenn einer müde ist, muss er für einen Neuen Platz machen.
Erwarten Sie, dass Albaniens Talente wie Mario Mitaj, 20, oder Ernest Muçi, 23, die hoch gehandelt werden und derzeit bei Lok Moskau und Besiktas Istanbul spielen, sich ins Blickfeld großer Klubs spielen?
Ich erhebe nur einen Anspruch: Unsere Mannschaft muss Hunger zeigen – und die Bereitschaft, auf dem Rasen für das Trikot sterben.

Albaniens Trainerteam stammt aus Südamerika: Sylvinho ist Brasilianer, sein Assistent Pablo Zabaleta Argentinier. Sylvinho ist nach Tirana gezogen, um die albanische Fußballkultur kennenzulernen.
Das war eine richtige, kluge Entscheidung. Sylvinho lebt zwar schon seit sehr langer Zeit in Europa. Aber er kannte den albanischen Fußball nicht, als er unterschrieb – das war damals eine Blitzentscheidung. Seine Vorgänger Edoardo Reja und Gianni De Biasi waren oft und lange in Tirana, aber sie haben sich dort nicht niedergelassen. Obwohl man in Albanien besser leben kann als in vielen anderen Orten, deutsche Städte eingeschlossen. Es ist ein Traumland: Meer, Essen, Gastfreundschaft – wer einmal da war, ist immer wieder zurückgekommen. Dafür muss man auch nicht zum Staatsbürger ernannt werden wie Sylvinho, der hat ja jetzt einen albanischen Pass.
Wir sprachen zuletzt mit dem italienischen Europameister Giorgio Chiellini, dessen Respekt vor Albanien war enorm. Der Fußball dort sei enorm gewachsen, sagte er. Woher rührt das?
Wir haben neue Generationen mit viel Talent. Drei, vier Generationen, die ins Ausland gegangen sind und dort aufgewachsen sind – in Deutschland, in der Schweiz, Italien, Griechenland, überall in Europa! Es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Albaniens Liga ist immer noch eine der schlechtesten Europas. Es ist noch viel Arbeit zu erledigen, auch wenn die albanische Regierung gerade viel unternimmt und versucht, überall neue Stadien hinzustellen und die Infrastruktur zu verbessern. Die fußballerische Qualität ist ja da. Und: Albanien ist ein fußballverrücktes Land.
Das hat man auch gegen Italien in Dortmund gesehen. Das Westfalenstadion war voller Albaner. Die Italiener waren kaum wahrnehmbar ...
Unglaublich. Unglaublich, unglaublich. Unglaublich. Und es wird so bleiben. Am Mittwoch wird das Stadion gegen Kroatien in Hamburg auch mit 40 000 Albanern gefüllt sein. Sie sind fanatisch, in einem positiven Sinn. An der Unterstützung wird es also nicht liegen.