Achtelfinale Frankreich – Belgien:Antifußball? Können die Belgier jetzt selbst

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Der Anblick schmerzt Belgien noch immer: Frankreichs Verteidiger Samuel Umtiti trifft im WM-Halbfinale 2018 zum 1:0-Sieg für den späteren Weltmeister – der nicht Belgien heißen wird. (Foto: Li Ming/dpa)

Viele Belgier finden, die Franzosen hätten ihnen 2018 den WM-Titel geklaut – mit effektivem, aber hässlichem Minimalismus. Vor dem Wiedersehen im EM-Achtelfinale wirken nun beide Teams eher ratlos.

Von Claudio Catuogno

Es kommt recht häufig vor, dass Fußballmannschaften Spiele verlieren, von denen die Beteiligten später sagen, sie hätten sie gewinnen müssen. Wenn, ja wenn … es so etwas wie Gerechtigkeit gäbe auf dem Fußballplatz! Aber selten wurde diese Klage mit so viel hilflosem Furor vorgetragen wie im Juli 2018 in Sankt Petersburg.

Auftritt des Welttorhüters Thibaut Courtois nach dem 0:1 seiner Belgier im WM-Halbfinale gegen Frankreich: Courtois stand in den Katakomben der Gazprom-Arena, geschockt, als sei ihm der Fußballteufel persönlich erschienen. Dabei war es nur der Franzose Olivier Giroud gewesen, der angebliche Mittelstürmer der Franzosen, der auch im sechsten WM-Spiel seine skurrile Statistik weitergeschrieben hatte: mehr als 700 Minuten Fußball, null Torschüsse! Dafür hatte Giroud mehrere Zweikämpfe an der eigenen Eckfahne gewonnen, permanent das belgische Aufbauspiel gestört – und zwischendurch hatte dann halt der Innenverteidiger Samuel Umtiti einen Kopfball zum Siegtreffer ins Tor gewuchtet. Belgien war raus. Courtois war außer sich.

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Die Gegentrefferquote spricht für Spanien, die Zahl der Abschlüsse, das Selbstbewusstsein ohnehin. Auch kurze Konfusion kann das Team verkraften, weil die Tore fallen – vor dem Viertelfinale gegen das DFB-Team ist die Zuversicht der Spanier enorm.

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Natürlich sei es „das Recht der Franzosen, so zu spielen“, ultradefensiv und ohne jeden ästhetischen Anspruch, klagte er also vor den Reportern, „aber es ist nicht schön! Diese Elf ist nicht besser als unsere! Ich wäre lieber gegen Brasilien rausgeflogen als gegen diese Franzosen“. Ein paar Meter neben Courtois stand Eden Hazard, ebenfalls eine große Nummer im internationalen Fußball damals, und verstieg sich in die trotzige Vorstellung, es gebe eine moralische Verpflichtung, lieber in Schönheit unterzugehen, als hässlich zu siegen: „Lieber verliere ich mit diesem Belgien, als mit diesem Frankreich zu gewinnen“, sagte Hazard. Die Belgier klebten damals quasi einen Warnhinweis auf den französischen Fußball, einen Kampfbegriff, den Courtois sich ausgedacht hatte und der Les Bleus noch eine Weile verfolgen sollte: Achtung, „Antifußball“!

Antifußball? Der französische Nationaltrainer Didier Deschamps hat darauf dann gerne Bezug genommen, fünf Tage später, nachdem seine Antifußballer auch das WM-Finale gewonnen hatten und ihm die Frage gestellt worden war, welche Botschaft davon nun ausgehe, welchen Trend dieser neue Weltmeister setze. „Sind wir ein schöner Weltmeister?“, fragte Deschamps: „Ich weiß es nicht. Wir sind Weltmeister. Für die nächsten vier Jahre stehen wir auf dem Dach der Welt.“

Belgiens „goldene Generation“ hat einige ihrer prominentesten Vertreter schon verloren, ohne dass irgendein Titel herausgesprungen wäre

Noch heute sind viele in Belgien der Ansicht, der WM-Titel 2018 sei ihnen widerrechtlich entwendet worden, die Fifa habe statt des wahren Fußballweltmeisters damals in Russland einen Antifußballweltmeister gekürt. (Dass auch sie das Finale gegen Kroatien gewonnen hätten, das setzen diese Belgier voraus.) Die französische Sporttageszeitung L’Équipe hat extra eine kleine Serie gestartet, Titel: Sur les routes du „seum“, auf den Spuren der „Wut“. Dabei gilt „seum“ als Chiffre für das Halbfinale von Sankt Petersburg, des belgischen Furors wegen. Eine der Spuren führt einen Reporter nun in eine Kneipe hinter dem Brüsseler Justizpalast: Da sitzen ein dicker Polizist, ein Bestattungsunternehmer und ein ehemaliger Politiker, der jetzt kellnert, zusammen – und was wie ein Witz beginnt, endet auch mit einem. „Ihr habt uns die Weltmeisterschaft 2018 geklaut“, sagt der Bestattungsunternehmer. Aber bei der EM 2024 spiele Belgien selbst so „wie die Franzosen bei der WM 2018: alle hinten rein“.

Nach dem mageren 0:0 gegen die Ukraine mussten sich Belgiens Trainer Domenico Tedesco (Zweiter von rechts) und sein Kapitän Kevin De Bruyne Pfiffe von den eigenen Fans anhören. (Foto: Tom Weller/dpa)

Das ist die Ironie, der sich jetzt auch einer stellen muss, der damals, 2018, kein Witz, noch als Trainer des FC Schalke 04 in der Champions League spielte: Domenico Tedesco, 38, Belgiens Nationaltrainer aus Esslingen, Baden-Württemberg. Wenn man von Sankt Petersburg sechs Jahre vorspult, sieht man die Belgier im Stuttgarter EM-Stadion, nach einem 0:0 im letzten Gruppenspiel gegen die Ukraine, in dem bis zur letzten Minute ein Gegentreffer das vorzeitige Ausscheiden bedeutet hätte. Kevin De Bruyne, der heutige Star und Kapitän des Teams, schlurft Richtung belgische Kurve, aber das Pfeifkonzert ist so gellend, dass De Bruyne seinen Kollegen signalisiert: Wir drehen um! Ein bisschen Restwürde will er sich und dem Team wohl erhalten, wobei das ja eigentlich dazugehört nach richtig miesen Spielen, sich wenigstens der zahlenden Kundschaft zu stellen.

Der langjährige Kapitän Eden Hazard hat seine Karriere im Sommer 2023 beendet, und Thibaut Courtois wird auch nicht dabei sein, wenn die Belgier am Montag (18 Uhr) erneut auf Frankreich treffen, diesmal in Düsseldorf, im Achtelfinale der Europameisterschaft. Courtois hat seine Karriere nicht beendet, sich aber mit Tedesco zerstritten. Die viel beschworene „goldene Generation“ des belgischen Fußballs hat einige ihrer prominentesten Vertreter schon verloren, ohne dass irgendein Titel herausgesprungen wäre. Und nun?

Spielen, schön spielen gar? Wir wollen gewinnen! Die Franzosen klingen schon wieder wie 2018

Die Franzosen versuchen vor dem Wiedersehen in Düsseldorf schon wieder, wie 2018 zu klingen, etwa der Mittelfeldspieler Aurélien Tchouaméni von Real Madrid kürzlich im Quartier in Bad Lippspringe bei Paderborn: „Für diejenigen, die ein sehr schönes Spiel sehen wollen, sind wir vielleicht nicht die beste Mannschaft“, sagte er, „aber wir sind die Mannschaft, die sich am häufigsten unter den letzten Vier wiederfindet. Und das ist es, was zählt.“ Da blitzt viel von der Lehre des Didier Deschamps durch, der beim WM-Titel 1998 seinerseits der Kapitän der Bleus war und schon damals kundtat, er spiele Fußball „nie, um zu spielen, sondern immer nur, um zu gewinnen“.

Aber die Franzosen sind – wie die Belgier – noch auf der Suche nach ihrer Mitte bei dieser EM: konzentriert und kämpferisch, aber oft auch hoffnungslos ineffektiv und ungeschickt, und zudem irritiert vom Nasenbeinbruch des Stürmers Kylian Mbappé, der nun mit Maske antritt. Was 2018 wie ein genialer Plan daherkam – spielerischer Minimalismus bei maximaler defensiver Stabilität –, hat ja am Ende nur deshalb zum Titel geführt, weil halt irgendjemand doch das entscheidende Tor erzielte, im Zweifel ein Innenverteidiger nach einem Standard. In drei EM-Spielen kommen die Franzosen nur auf einen verwandelten Elfmeter und ein Eigentor eines Österreichers. Die Équipe de France präsentiert sich bisher nicht wie ein Titelfavorit – einerseits.

Andererseits ist bei den Franzosen, anders als bei den Belgiern, vom Talent her halt jede Generation eine goldene. Für Kylian Mbappé war die WM in Russland damals das erste große Turnier, und als er nach dem Halbfinale im Bauch des Stadions von Sankt Petersburg stand, da hatte auch er eine Erklärung für dieses unschöne, aber effektive 1:0 gegen die schönen, aber ineffektiven Belgier: „Es standen heute elf Hunde auf dem Platz.“

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