DFB nach der EM 2021:Was wird aus der Ü-30-Truppe?

Fünf bei der EM eingesetzte Spieler des Nationalteams sind über 30. Manuel Neuer steht nicht in Frage, Thomas Müller gilt als Lieblingsspieler des neuen Bundestrainers Hansi Flick. Bei mindestens drei weiteren Erfahrenen ist es kompliziert.

Von Sebastian Fischer

Die Analysen von Mats Hummels sind oft klug, aber manchmal haftet ihnen auch etwas Geheimnisvolles an, diesmal wusste er das selbst. Der Verteidiger saß der eigenen Schilderung zufolge im Mannschaftsbus, der die Spieler davonfuhr vom Wembley-Stadion, weg vom Ort ihrer letzten Partie bei dieser Europameisterschaft, als er einen Beitrag für die sozialen Medien ins Handy tippte. "So richtig kriege ich auch meine Gedanken nicht gesammelt, habe aber das Bedürfnis zu schreiben, was in mir vorgeht", bemerkte er einleitend. Und er kam zu folgendem Schluss: "Ich fand, wir hatten, was es braucht, um dieses Turnier zu gewinnen. Was mit unserer Niederlage heute natürlich sehr komisch klingt, dessen bin ich mir bewusst."

Wenn die Mannschaft hatte, was es braucht, was fehlte dann? Warum? Und was könnte das für seine Zukunft als Nationalspieler bedeuten? Hummels schrieb: "An der Stelle setze ich dem Text jetzt erst mal ein Ende, es ist immer schwierig, diese Gedanken zu greifen so kurz nach einem Ausscheiden ..."

Hummels, 32, stand schon vor dem Turnier als eine der deutschen Schlüsselfiguren dieser EM fest. Genau wie Thomas Müller, 31, kehrte er nach der Ausmusterung durch Joachim Löw im Frühjahr 2019 wieder zurück, schier ewig war darüber gesprochen und spekuliert worden. Anders als Müller, der Beauftragte für unkonventionelles Torerzielen und Teamgeist, sollte Hummels das ausgewiesene Problemressort anleiten, die Abwehr. Auf der Defensive lag von Anbeginn der Vorbereitung der fast etwas zu schwerwiegend wirkende Schwerpunkt des Bundestrainers.

Hummels ist sein Job in vier Spielen passabel gelungen, auch wenn das Turnier mit seinem Eigentor gegen Frankreich begann, doch schon das war eher das Resultat einer Fehlerkette als sein persönliches Misslingen. Gegen England rettete er zweimal heroisch das 0:0 bei Gelegenheiten des Stürmers Harry Kane, einmal per Kopfball und einmal mit einer fulminanten Grätsche. Bei den zwei Gegentoren war er nicht zur Stelle, es waren allerdings auch nicht seine Fehler.

Manches deutet darauf hin, dass Müller auch unter Flick eine prominente Rolle einnimmt

Die tragische Figur der beiden Rückkehrer ins Nationalteam war Müller, der die große Chance zum Ausgleich vergab, nach einem langen Sprint in Richtung von Englands Torwart Jordan Pickford vorbeischoss. Auch Müller schrieb etwas dazu: "Da war er, dieser eine Moment, der dir am Ende in Erinnerung bleibt, der dich nachts um den Schlaf bringt. Für den du als Fußballer arbeitest, trainierst und lebst. Dieser Moment, wenn du es alleine in der Hand hast, deine Mannschaft in ein enges K.-o.-Spiel zurückzubringen und eine ganze Fußballnation in Ekstase zu versetzen. Diese Möglichkeit zu bekommen und sie dann ungenutzt zu lassen, tut mir verdammt weh."

Hätte nicht geschadet, den reinzumachen, so konnte man es auch sagen. Und so drückte es Müller offenbar im Zwiegespräch mit dem Bundestrainer aus, erzählte Löw tags darauf in seiner Abschieds-Pressekonferenz.

Müller wird beim nächsten großen Turnier, der Weltmeisterschaft in Katar im übernächsten Winter, 33 Jahre alt sein. Doch darauf, dass er weiterhin eine prominente Rolle in der Nationalmannschaft des neuen Bundestrainers Hansi Flick einnimmt, darauf deutet manches hin. Flick hat Müller beim FC Bayern zu alter Form getrieben und zum zentralen Spieler erkoren. "Hansi wird ihn sicher nicht aussortieren", schrieb Lothar Matthäus, Flick-Vertrauter, in seiner Sport-Bild-Kolumne.

DFB-Direktor Oliver Bierhoff sprach in der Pressekonferenz am Mittwochnachmittag schon über die anstehenden Unterredungen mit Flick, und er beschrieb den neuen Bundestrainer als jemanden, "der gerne junge Spieler einbaut, der gerne längerfristig schaut. Er, Bierhoff, habe zwar noch von keinem der älteren Spieler gehört, dass er in den kommenden Tagen seinen Rücktritt verkünden werde. Es sei "immer gut, ein bisschen Zeit verstreichen zu lassen".

Und es braucht ja auch Erfahrung für die weiterhin hohen Ambitionen. Doch dass es nun die Gedanken geben wird, jenen schon 2019 versuchten Umbruch noch mal zu forcieren, nicht nur mit Blick auf die WM in Katar, sondern auch die Heim-EM 2024 in Deutschland, das ist naheliegend.

Löw selbst erwähnte am Mittwoch zuerst Joshua Kimmich und Leon Goretzka, als er über die prägenden Nationalspieler der Zukunft sprach, und es wäre tatsächlich auch keine große Überraschung, wenn Flick das ähnlich sieht. Kimmich und Goretzka, das war seine erfolgreiche Zentrale beim FC Bayern in der vergangenen Saison, und das könnte auch seine Zentrale in der Nationalelf sein. Gerade Kimmich, bei der EM systembedingt in umstrittener Rolle als Rechtsverteidiger, sieht er als Mann für die Mitte. Und dort, in der Mitte, könnten deshalb verdiente Spieler fortan womöglich an Bedeutung verlieren.

Es war in Löws Nationalmannschaft zum Beispiel unumstritten, dass in der Mitte ein Platz für Toni Kroos reserviert ist, den so hochdekorierten Fußballer und hochbegabten Passgeber von Real Madrid. Doch bei der WM wird auch schon Kroos fast 33 sein.

Schon bei dieser EM musste er seine Rolle anpassen, mehr Aufgaben eines klassischen Sechsers in der Defensive übernehmen, um dem Vorwurf zu begegnen, mit seinem so akkuraten, aber auch oft gemächlich wirkenden Spiel aus der Zeit zu fallen. Wenn Flicks Plan jenem beim FC Bayern ähnelt, dann dürfte er fortan eine Taktik bevorzugen, die offensives Verteidigen beinhaltet, Dynamik. Es könnte also schwer werden für Kroos. Sein Rücktritt gilt nicht als ausgeschlossen.

Der nächste über 30-Jährige im deutschen Zentrum, auf andere Weise - aber keineswegs weniger - hochbegabt ist İlkay Gündoğan von Manchester City. Nach einer überragenden Saison im Verein, mit 13 Saisontoren beim englischen Meister, spielte er eine kaum definierbare EM, so wenig trat er in Erscheinung. Bevor das Turnier für ihn so richtig beginnen konnte, zog er sich eine Schädelprellung im Spiel gegen Ungarn zu.

Auch Gündoğan wäre bei der WM 32. Andererseits wäre es eine fahrlässige Verschwendung, einen der nachweislich besten Mittelfeldspieler der Welt nicht mehr zum führenden Personal der Nationalelf zu zählen, zumal Gündoğan anders als Kroos beim Weltmeistertitel 2014 fehlte.

Über seine Zukunft im Nationalteam habe er "noch keinen Gedanken verschwendet", sagt Hummels

Bleibt neben Hummels nur noch ein bei der EM eingesetzter über 30-Jähriger im deutschen Kader - allerdings einer, der bereits verkündet hat, dass er weitermacht. Torwart Manuel Neuer, 35, sprach zwar im Wembley-Stadion rührend über den Abschied von Löw, "nach dem Abpfiff habe ich Richtung Trainerbank geschaut", sagte er, was ja nicht unbedingt eine selbstverständliche Reaktion ist im Angesicht der Niederlage. An seinen eigenen Abschied denkt er aber nicht. Beim FC Bayern haben sie gerade Ersatzkeeper Alexander Nübel für zwei Jahre verliehen, damit Neuer selbst in allen unwichtigen Spielen ungestört im Tor stehen darf.

Und Hummels? Bei Borussia Dortmund ist er weiterhin unumstrittener Abwehrchef, mit Qualitäten von Weltklasse in der Spieleröffnung und im Zweikampf, sein Vertrag gilt bis 2022 und könnte sich angeblich nach einer gewissen Anzahl an Spielen automatisch um ein Jahr bis 2023 verlängern. An seine Zukunft im Nationalteam habe er "noch keinen Gedanken verschwendet. Ich will erst einmal ein paar Tage abschalten", sagte er am Dienstag.

Vor ein paar Tagen hatte er jedoch noch erklärt, die WM 2022 und auch die Heim-EM 2024 würden ihn "definitiv" reizen. Bei der EM wäre er allerdings schon 35. Und sollte Flick ein System mit Viererkette bevorzugen, bräuchte er einen Innenverteidiger weniger. Es wäre also auch in der Abwehrmitte der Platz knapp. Flick gilt außerdem als Fan des nach seinem DFB-Aus 2019 bislang nicht wieder nominierten Jérôme Boateng, 32.

Bevor Mats Hummels später im Bus die Worte fehlten, tröstete er auf dem Rasen von Wembley den aufgelöst wirkenden Joshua Kimmich, den nächsten Führungsspieler des Nationalteams. Auch Hummels, dem alten Leader, standen die Tränen in den Augen.

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