Deutsches EM-Aus im Achtelfinale:Radio Müller verliert die Frequenz

Deutsches EM-Aus im Achtelfinale: Frei vor dem Tor, aber daneben: Thomas Müller gegen England.

Frei vor dem Tor, aber daneben: Thomas Müller gegen England.

(Foto: Frank Augstein/AFP)

"Es tut mir verdammt weh": Allein vor dem englischen Tor wird Thomas Müller zur tragischen Figur - am Morgen danach meldet er sich emotional zu Wort.

Von Sebastian Fischer

Der lange Anlauf zur Chance, die alles noch mal hätte ändern können, begann für Thomas Müller nicht erst an der Mittellinie auf dem Rasen des Wembley-Stadions. Er begann eher in einem der vielen fast leeren Stadien, irgendwann während der vergangenen Monate, in denen kein deutscher Fußballer mehr auffiel als er, niemand so viel lief und rief, Tore erzielte und erzwang, sich zu verlieren weigerte und Titel gewann, bis Joachim Löw kaum noch anders konnte, als seine Entscheidung zu revidieren.

Vieles ließ sich vor dieser Europameisterschaft an der Entscheidung ablesen, dass Müller, 31, und Mats Hummels, 32, in die Nationalmannschaft zurückkehrten, obwohl Löw sie im März 2019 aus dem Kader geworfen hatte. Der Entschluss stand für den Pragmatismus des Bundestrainers, es in seinem letzten Turnier doch noch mal mit den besten Fußballern zu versuchen. Er stand dafür, dass sich die Jüngeren noch nicht bewährt hatten. Er stand aber auch für die Hoffnung, dass es nun doch noch mal reichen würde. Schon im Trainingslager vor der EM war Müller auch beim DFB gleich wieder Radio Müller. Als wäre er nie weggewesen, sagten alle.

Und nun also diese 81. Minute im Achtelfinale der deutschen Mannschaft gegen England: Beim Stand von 0:1 spielte Raheem Sterling, der das Führungstor erzielt hatte, einen gedankenlosen Rückpass, den Kai Havertz aufnahm und einen Konter mit einem Steilpass in den großen, freien Raum in Englands Hälfte beschleunigte. Die englischen Fans, die schon siegessicher gesungen hatten, sie hielten nun den Atem an, so klang es jedenfalls.

Im Gesicht ein Ausdruck von Schock

Müller erlief den Ball, und es vergingen ein paar quälende Sekunden, bis er vor Englands Keeper Jordan Pickford angelangt war, Sekunden zum Überlegen womöglich. Er schoss in die linke Ecke, es war die richtige Wahl, es war auch ein guter Schuss, ein typischer Müller-Schuss eigentlich: nicht verkünstelt, nicht gelupft, nicht mit Gewalt. Aber Müller zielte daneben und sank auf die Knie, im Gesicht ein Ausdruck von Schock. Das war's, das ahnte er, das musste er wissen.

"Dieses Tor hätten wir gebraucht", sagte Löw später in seinem leisen ersten Interview nach dem Spiel. "Wir hätten zurückkommen können durch Thomas Müller", sagte er in der Pressekonferenz. Es wäre das 1:1 gewesen, stattdessen trafen fünf Minuten später die Engländer zum 2:0.

Am frühen Mittwochmorgen meldete sich Müller mit einem bewegenden Instagram-Post zu Wort. "Da war er, dieser eine Moment, der dir am Ende in Erinnerung bleibt, der dich nachts um den Schlaf bringt. Für den du als Fußballer arbeitest, trainierst und lebst", schrieb Müller: "Dieser Moment, wenn du es alleine in der Hand hast, deine Mannschaft in ein enges K.-o.-Spiel zurückzubringen und eine ganze Fußballnation in Ekstase zu versetzen." Diese Möglichkeit zu bekommen "und dann ungenutzt zu lassen, tut mir verdammt weh", sagte Müller.

Der Münchner war die tragische Figur beim Achtelfinal-Aus der deutschen Mannschaft und beim letzten Spiel des Bundestrainers, das schon, aber er war nicht die allein entscheidende. Er könne ihm keinen Vorwurf machen, sagte Löw. Müller vergab die letzte Chance, eine von wenigen, aber nicht die einzige. In der 32. Minute war Timo Werner schon mal vor Englands Tor aufgetaucht, in die Tiefe geschickt, so wie es der Plan war. Doch der Plan ging zu selten auf. Und seine eine Chance vergab auch Werner, wie er es in dieser Saison beim FC Chelsea so oft getan hat. Nach etwas mehr als einer Stunde ging er für Serge Gnabry vom Platz.

Um jenen Müller zu sehen, der sich mit so starken Leistungen für die Nationalelf empfahl, hätte Löw um ihn herum mehr Spieler des deutschen Meisters aufstellen können, um eingespielte Abläufe zu nutzen. Joshua Kimmich und Leon Goretzka spielen in München hinter ihm, Gnabry und Leroy Sané oft an seiner Seite. Doch Kimmich wurde rechts gebraucht, Sané ist außer Form. Deshalb entschied sich Löw für Werner und Havertz im Angriff. Und vielleicht bekam Löw auch deshalb nicht den bestmöglichen Müller. Er ging in der Nachspielzeit vom Platz, ausgewechselt für Jamal Musiala, noch einen Münchner, der vielleicht hätte helfen können.

Seine Turnier-Tore hat Müller nur bei Weltmeisterschaften erzielt

Müller redete auch diesmal viel, rief auch im lauten Wembley-Stadion, obwohl er nun natürlich schwieriger zu verstehen war. Er gestikulierte stattdessen, winkte als Kommando zum Angriff: Raus hinten! Drauf jetzt! Das schien er manchmal bedeuten zu wollen. Doch während es in München seine Stärke ist, das Pressing anzuleiten, war dafür am Dienstagabend der Weg zum gegnerischen Tor zu weit und zu wenig Offensive an seiner Seite. Es war stattdessen ein Spiel des Abwartens und der wenigen Chancen. Für Müller war es das 15. von 15 EM-Spielen, in dem er keine nutzte. Seine Turnier-Tore hat er nur bei Weltmeisterschaften erzielt.

Ob es auch, nun endgültig, sein letztes Länderspiel bei einem Turnier war? Hummels, der andere Zurückgeholte, vertagte eine Entscheidung in seinem Fall, er wollte dazu nichts sagen, "das werde ich irgendwann in ein paar Wochen mal machen". Müller ist ein Lieblingsspieler des Bundestrainers Hansi Flick, der ihm in München zu alter Form verhalf. Aber bei der WM im übernächsten Winter ist er schon 33. Es wäre noch mal ein langer Anlauf.

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