Englands Raheem Sterling:Endlich ein bisschen Liebe

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Die Deutschen niedergestreckt: Das Tor des "Three Lions"-Stürmers Raheem Sterling (links oben) nockte die DFB-Spieler aus. (Foto: John Sibley/dpa)

Mit 26 Jahren in einer Riege von Jungstars hatte es Raheem Sterling schwer, die Anerkennung Englands zu gewinnen - bis zu seinem Tor gegen Deutschland. Trainer Southgate fordert höhnisch: "Bitte stellt ihn weiter in Zweifel."

Von Sven Haist, London

Inzwischen dürfte sich Raheem Sterling daran gewöhnt haben, dass auf der Insel meistens nicht über ihn, sondern über seine Mitspieler gesprochen wird. Jedes Länderspiel des englischen Nationalteams bei dieser EM wird von der Diskussion begleitet, warum die gehypten Jungstars in der Mannschaft nicht konstant zum Einsatz kommen. Die Fans würden gern sehen, dass in jeder Startelf neben Kapitän Harry Kane mindestens auch Jack Grealish (25/Aston Villa), Marcus Rashford (23/Manchester United), Mason Mount (22/FC Chelsea), Phil Foden (21/Manchester City) und Bukayo Saka (19/FC Arsenal) in der Offensive zu finden sind - sowie der gerade für 85 Millionen Euro von Borussia Dortmund zu Manchester United transferierte Jadon Sancho, 21.

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Die Sehnsucht des Fußballvolks nach den Himmelsstürmern ergibt sich aus ihren teils spektakulär anmutenden Spielstilen und insbesondere ihren zuletzt katapultartigen Aufstiegen aus den Nachwuchszentren des Landes. Bislang gelang es englischen Talenten allenfalls sporadisch, sich als Teenager in der hart umkämpften Premier League zu behaupten, weil die Klubs im Zweifel lieber auf etablierte Kräfte setzten. Vor lauter Stolz erscheint nun der Wunsch der Nation umso größer zu sein, diese Spieler auf dem Platz zu sehen - was auf Kosten des mittlerweile renommierten und schon längst etablierten Sterling geht.

Zwar ist der Angreifer von Manchester City auch erst 26 Jahre alt, aber halt schon seit inzwischen neun Jahren dabei, seitdem er im März 2012 für den FC Liverpool als 17-Jähriger sein Debüt in der Premier League gefeiert hat. Nach wie vor gehört Sterling zu den zehn jüngsten Torschützen in der Ligahistorie. Seine kontinuierliche Präsenz und effiziente Spielweise haben es jedoch mit sich gebracht, dass seine Leistungen schnell für garantiert gehalten und fortan unter Wert gehandelt wurden. Diese Einstellung gipfelte in der EM-Auftaktpartie gegen Kroatien im Unverständnis über die Entscheidung des Nationaltrainers Gareth Southgate, an Sterling festzuhalten und ihm den Vorzug vor den begehrten Jungstars zu geben. Nicht mal sein Siegtor in diesem Spiel konnte die Kritiker so richtig besänftigen, ebenso wenig wie sein nächstes Siegtor gegen Tschechien im dritten Vorrundenspiel, das England den ersten Platz in der Gruppe sicherte.

Mit 65 Länderspielen ist Sterling der am häufigsten eingesetzte Spieler im Aufgebot

Um die Anerkennung zu erhalten, die seinen Arbeitsnachweisen angemessen erscheint, musste Sterling auch noch das erste Tor beim für England historischen 2:0 über Deutschland im Achtelfinale am Dienstag erzielen. Damit ist Sterling neben Stürmerlegende Gary Lineker der einzige Engländer, dem bei einem Turnier jeweils die ersten drei Treffer fürs Nationalteam gelangen. "Bitte stellt ihn weiter in Zweifel", sagte Southgate höhnisch, "weil, wenn wir ihn nicht mehr motivieren können, werden das bestimmt alle anderen schaffen (mit ihren Fragen)." Die Times widmete Sterling am Donnerstag eine Doppelseite mit der Aufforderung nach "Respekt und Wertschätzung" für ihn. Das Massenblatt Sun wortspielte, dass in dieser Nacht "ein Ster" geboren worden sei - achteinhalb Jahre nach seiner England-Premiere.

Mit 65 Länderspielen ist Sterling der am häufigsten eingesetzte Spieler im Aufgebot, und zugleich einer der erfolgreichsten in dieser Zeit mit 17 Toren und 22 Vorlagen. Allerdings wirken weiterhin die Ressentiments aus seiner Anfangszeit nach, als ihm zunächst bloß zwei Tore in 45 Partien für die Three Lions gelangen. Bei einem Testspiel in Dublin 2015 pfiffen ihn eigene Fans aus, nach einem ernüchternden 1:1 im Duell mit Russland bei der EM 2016 reagierte Sterling auf die schmähenden Anfeindungen mit einer Mitteilung in den sozialen Medien, Hashtag: "The Hated One", der Gehasste.

Erst mit Southgates Amtsbeginn im Herbst 2016 verbesserte sich das Verhältnis zwischen Sterling und England, bereits auf dem Weg ins Halbfinale der WM 2018 vertraute sein Trainer ihm die Rolle im Angriff neben Kane an. Zum großen Durchbruch kam es im darauffolgenden Oktober, als ihm nach drei Jahren gleich zwei Treffer im Nations-League-Spiel gegen Spanien gelangen, aus der sich die beeindruckende Serie von 15 Toren in 20 Partien entwickelte. Nach Kane (30 Tore) ist Sterling der zweitbeste Torschütze in der Ära Southgate. Seine Tore in Sevilla seien für Sterling wie "ein Raketenstart" gewesen, sagt Southgate: "Raheem ist ein Kämpfer mit enormer Belastbarkeit. In den vergangenen Jahren hat er einen unglaublichen Torhunger entwickelt."

Schon als Kind musste er mehrere Schicksalsschläge verkraften

Aufgrund seiner Explosivität und Geradlinigkeit ergänzt sich Sterling nahezu ideal mit den Fähigkeiten seines Nebenmanns Kane, die beide ihr Zusammenspiel über viele gemeinsame Einsätze im Nationaltrikot perfektioniert haben. Um Kanes Spielweise zu kapitalisieren, benötigt es - wie auf Klubebene bei Tottenham Hotspur - einen antrittsschnellen Partner, der konsequent eine Anspielstation hinter der gegnerischen Abwehr liefert. Dieses Muster kennt Sterling aus der Trainingsarbeit mit Trainer Pep Guardiola bei City, der die Torchancen über Schnittstellenpässe herausgespielt haben möchte. In sechs Saisons bei City, fünf davon mit Guardiola, kommt Sterling auf 114 Tore und 87 Assists in 292 Pflichtspielen. Sein kontroverser 50-Millionen-Pfund-Transfer im Sommer 2015 aus Liverpool zum Meister, der ihn zu dieser Zeit zum teuersten britischen Fußballer gemacht hatte, härtete Sterling weiter ab und half ihm, mit dem öffentlichen Druck umzugehen.

Schon als Kind musste er mehrere Schicksalsschläge verkraften. Der in Kingston, Jamaika, geborene Sterling musste mit zwei Jahren den Mord an seinem Vater verkraften, kurz darauf wanderte seine Mutter ohne ihn und seine Schwester nach England aus. Erst als Fünfjähriger durfte Sterling nachkommen und wuchs im Schatten des Nationalstadions Wembley auf, eine damals für ihre Kriminalität bekannte Gegend. Immer wieder kam es bei Sterling in der Schule zu Verhaltensauffälligkeiten, einer seiner Lehrer soll gesagt haben, dass er entweder einmal für England auflaufe oder im Gefängnis lande. Mit 15 Jahren zog er in die Akademie nach Liverpool und verwirklichte dort seinen Traum vom Profifußballer, stets begleitet von reichlich Vorurteilen - die er erst jetzt offenbar so langsam loswird.

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