DFB-Team bei der EM:Wie Kimmichs Rolle die deutsche Elf verändert

Nach einem Gespräch mit Bundestrainer Löw darf Joshua Kimmich die Position am rechten Rand anders interpretieren - dadurch wird ein emotionales und ein fachliches Problem gelöst.

Von Christof Kneer

In der 35. Minute spielte Joshua Kimmich den Ball weit hinüber auf Robin Gosens, wenige Sekunden später fiel ein Tor. In der 39. Minute grätschte Kimmich den Ball kurz vor der Torauslinie nach innen, einen Augenblick später fiel das Tor. In der 51. Minute spielte Kimmich einen Doppelpass mit Thomas Müller, dann kam der Ball zu Gosens, dann zu Havertz, Tor. In der 60. Minute flankte Kimmich von rechts, und als der Ball am Ende seiner Flugbahn angekommen war, fand er droben in der Luft wieder Gosens. Und wieder: Tor für Deutschland.

Es scheint kein übles Schicksal zu sein, als Joshua Kimmich in ein Fußballspiel zu gehen. Wenn auf der falschen Position zu spielen bedeutet, dass man vier Tore vorbereitet, dann würden viele Fußballer sehr gerne auf der falschen Position spielen.

Fußball EM - Portugal - Deutschland

Mein Stammplatz ist bei meiner Familie: Joshua Kimmich, deutsche Nummer 6 auf Außenbahnmission, nach dem Portugal-Spiel mit Eltern, Schwester Deborah und Freundin Lina.

(Foto: Christian Charisius/dpa)

Er habe sich für solche Fragen inzwischen "eine Standardantwort zurechtgelegt", schmunzelte Kimmich, als nach dem 4:2 gegen Portugal wieder jemand wissen wollte, wo er denn lieber spiele: im zentralen Mittelfeld oder auf der rechten Seite. Kimmichs Standardantwort lautet: Ja, ich sehe mich als Mittelfeldspieler, aber nein, die rechte Seite ist kein Problem. Manchmal folgt noch ein zweiter Satz, dieser hier: "Das erwarte ich auch von jedem anderen und nicht nur von mir, dass man alles für den Teamerfolg in die Waagschale wirft." Es muss die Euphorie des Spiels gewesen sein, die Kimmich noch einen dritten Satz sagen ließ. Er sagte: "Nur wenn wir das alle machen, können wir ganz weit kommen."

Kimmich, 26, ist in der Nachbetrachtung dieses festlichen 4:2 etwas untergegangen, Experten und Fans hatten nicht so viel Zeit für ihn. Sie kannten ihn ja schon. Neu und aufregend war dieser Gosens, bei dem man nie weiß, ob jetzt eine Schnodderantwort wie von Lukas Podolski kommt oder ein geschliffenes Argument wie von einem Hockeyspieler. Auch Kai Havertz ist ein gutes Thema gewesen nach dem Spiel, ebenfalls zu Recht, zu aufdringlich war ja der Unterschied zwischen dem breitschultrigen Portugal-Havertz und dem verklemmten aus dem Frankreich-Spiel. Aber wer erklären will, wie eine Elf ihre Ausstrahlung vom einen Spiel zum anderen so radikal verändern kann wie die deutsche, der kommt an Kimmich nicht vorbei.

Gegen Frankreich war Kimmich am Flügel isoliert. Jetzt hat er Spielkameraden

An Kimmich lässt sich erklären, warum Löw gegen Portugal mit denselben Namen eine andere Mannschaft aufs Feld schicken konnte, aber Kimmichs Spiel reichte auch weit über den Abend hinaus. Kimmichs Spiel muss man schon deshalb Lob und Dank zollen, weil es farbige Bilder lieferte, mit denen man das schlimme Wort "Stellschrauben" unterlegen kann. Die Stellschrauben lagen überall rum an diesem Abend, sie kamen in nahezu jeder Antwort vor. Nein, man habe nicht viel verändert, Personal und System seien gleich geblieben. An den Stellschrauben habe man halt gedreht.

Womöglich gibt es im fränkischen Teamquartier ein kleines Denkerstübla, jedenfalls haben sich dort zuletzt zwei Männer die Köpfe zerbrochen. Überhaupt soll viel gesprochen worden sein im Camp, die Trainer mit den Spielern, die Spieler untereinander, es war die Lehre aus den unordentlichen Tagen bei der WM 2018, als im gespenstischen Watutinki alle durcheinanderquatschten, aber kein klares Wort der Führung zu vernehmen war. Diesmal wolle man es auf keinen Fall laufen lassen, heißt es. Also haben sich Joachim Löw und Joshua Kimmich nach dem Frankreich-Spiel im Quartier zusammengesetzt und präzise am Detail gefeilt.

Er werde am System "ein paar Anpassungen vornehmen", hatte Löw vor dem Portugal-Spiel gesagt. Jetzt weiß man, was er meinte.

Es hat offenbar erst die Niederlage gegen Frankreich gebraucht, um das Problem zu verstehen. Es ist ein doppeltes Problem, es hat eine emotionale und eine fachliche Seite. Kimmich mag die Rolle am Rand nicht so sehr, und sie liegt ihm auch nicht - jedenfalls, wenn sie so gestaltet ist wie vor den Gesprächen im Denkerstübla. Im DFB-Trainerstab haben sie inzwischen gemerkt, dass es ein unfairer Deal ist, wenn Kimmich etwas gibt, aber wenig dafür bekommt. Wenn er sich nach rechts verfrachten lässt, weniger Spielanteile hat als gewünscht und hinterher Kritiken lesen muss, die er für unter seiner Würde hält.

Gegen Portugal war Kimmich nicht mehr allein. Löw hat ihm ein paar Spielkameraden für seine Seite organisiert und damit das emotionale und das fachliche Problem gelöst.

Wenn Kimmich nach innen zieht, darf er sich wie ein Mittelfeldspieler fühlen

Kimmich ist kein Spieler, der ins Dribbling geht oder am Gegner vorbeisprintet, er hat nicht die Tricks und nicht das Tempo dafür. Das Tempo fehlt ihm auch, wenn er einem Gegner hinterherhetzen muss, am Flügel spielen ja meistens die schnellsten Leute. Kimmich isoliert in solche Duelle zu jagen, wäre a) unterlassene Hilfeleistung und b) eine Verschwendung wertvollster Ressourcen, und so war die neue Idee schon nach wenigen Minuten des Portugal-Spiels zu erkennen. Matthias Ginter, eigentlich rechter Innenverteidiger, spielte gleichzeitig ein bisschen Rechtsverteidiger und hielt Kimmich in der Defensive den Rücken frei. Nur so konnte Kimmich den offensiveren Auftrag erfüllen und gemeinsam mit Robin Gosens auf der gegenüberliegenden Seite die Flügelzange zukneifen lassen; und auch in der Offensive ist Kimmich nicht so einsam gewesen wie im Frankreich-Spiel. Gemäß den neuen Anweisungen schauten Müller, Gnabry oder Havertz immer wieder auf seinem Flügel vorbei und boten Kimmich die Möglichkeit, mit ihnen zu kombinieren oder nach innen zu ziehen.

Kimmich hat seinen Frieden gemacht mit dieser neu definierten Position, fachlich und auch emotional. Es habe ihn "noch mal gepusht", heißt es, dass der Bundestrainer auch seinetwegen an ein paar Stellschrauben gedreht habe. Nun sieht es doch aus wie ein fairer Deal: Kimmich hilft dem Team am Flügel und darf sich trotzdem wie ein Mittelfeldspieler fühlen. Und Kimmich weiß ja ohnehin, dass diese Rolle nur eine Art Turnierprojekt ist. Der neue Bundestrainer Hansi Flick wird ihn wie beim FC Bayern sofort wieder ins Zentrum stellen.

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