Italien schlägt England:Natürlich im Elfmeterschießen

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25 Jahre nach seinem verschossenen Elfmeter im Wembley-Stadion verliert Gareth Southgate auf ähnlich dramatische Weise das EM-Finale. Italien feiert, Englands nationales Trauma lebt weiter.

Von Philipp Schneider, London/München

Gareth Southgate, Englands Trainer, lief hinüber zu Roberto Mancini, seinem italienischen Kollegen. Um ihm zu gratulieren. Es war sein erster Weg, nachdem er gerade seinem eigenen Gespenst wiederbegegnet war, weswegen es Southgate niemand übel genommen hätte, wenn er schreiend fortgerannt wäre aus dem Wembley-Stadion in London. 1996 hatte er als Profi den entscheidenden Elfmeter bei der Europameisterschaft im Halbfinale gegen Deutschland verschossen, nun war er der Trainer einer Mannschaft, die auf höchstdramatische Weise den EM-Titel verpasst hatte. Ebenfalls nach shoot-out.

Wie viele Traumata kann eine Nation in nur einem Turnier besiegen? Vielleicht nur eins. Erst warfen die Engländer Deutschland raus im Achtelfinale - nun aber war Schluss. Um Southgate herum verstummten die englischen Fans. Kann ein ganzes Stadion in Schockstarre verfallen? Die Kamera fing Prinz William ein, er starrte in die Luft. Neben ihm sein Sohn, George Alexander Louis of Cambridge, sieben Jahre alt. Der kleine Prinz weinte. Eines Tages wird ihm vielleicht das ganze britische Empire Untertan sein, aber das war nun kein Trost. Nur die Queen, sie war gar nicht da.

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Es scheint ja so zu sein, dass die Monarchin von den größten Prüfungen erst im Herbst ihrer Regentschaft ereilt wird. Erst der Brexit, dann der Megxit von Prinz Harry und Herzogin Meghan aus der königlichen Familie. Jetzt auch noch dieses im Elfmeterschießen verlorene Finale im Corona-Tempel von Wembley, in dem nicht nur die Tröpfchen flogen, sondern der Wahnsinn von 60 000 überwiegend Halbnackten tanzte. Schon vor dem Anpfiff machten besorgniserregende Meldungen die Runde, wonach sich Hunderte Fans an den Sicherheitskräften vorbei in die Arena gedrängt hatten. Die Queen bestand auch diese Prüfung, indem sie das Finale sausen ließ, stattdessen achtgab auf ihre Gesundheit.

40 Jahre alt war Elizabeth II., als sie vor 55 Jahren den WM-Pokal an gleicher Stelle in Wembley an den englischen Kapitän Bobby Moore überreichte. Und es damals wohl gar nicht mitbekam, dass der Deutsche Helmut Haller sich trotz Niederlage nach dem Schlusspfiff den Ball schnappte, nach Hause schmuggelte und erst 30 Jahre später wieder zurückgab. So ein Finale, erst recht eins in Wembley, das schreibt halt mehr Geschichten, als sie Platz finden würden in einem Buch.

Roberto Mancini schnappte sich am Sonntag keinen Ball, der hätte auch gar nicht gepasst unter sein maßgeschneidertes weißes Hemd, Ausführung: slim fit. Aber er stand da nun im Konfettiregen, ließ sich die Garderobe ruinieren und weinte Tränen des Glücks.

England mit einem Angriff, der die Queen sicher stolz machte

Den Pokal überreichte mangels Queen der Uefa-Präsident Aleksander Čeferin an Italiens Kapitän Giorgio Chiellini. Und England hatte das zweite bedeutende Finale seiner Geschichte: verloren. Weltmeister 1966, nun aber doch nur Zweiter bei der Europameisterschaft 2021. 55 Jahre der Erniedrigung und Enttäuschung, die oft auch etwas mit Elfmeterschießen gegen Deutschland zu tun hatten, sie gingen am Sonntag in einem bombastischen Fanal in die Verlängerung.

Berardi traf. Kane traf. Pickford hielt gegen Belotti. Maguire traf. In den Winkel. Bonucci traf. Rashford wartete, verzögerte, trippelte, schoss gegen den Pfosten. Bernadeschi traf. Donnarumma hielt gegen Sancho. Pickford und der Pfosten hielten gegen Jorginho. Donnarumma hielt gegen Saka. Und England strandete in einem Tal der Tränen. Zumal Southgate Sancho und Rashford als vermeintliche Spezialisten eingewechselt hatte für das Elfmeterschießen. Football's not coming home. It's going to Rome.

Zwei Treffer gab es in der regulären Spielzeit. Der erste war der schnellste jemals erzielte der Final-Historie: Luke Shaw traf nach zwei Minuten. Leonardo Bonucci glich nach 67 Minuten aus, und auch dies war geschichtsträchtig: Mit 34 Jahren und 71 Tagen war er nun der älteste Torschütze in einem EM-Finale, er überbot Bernd Hölzenbeins Rekord (30 Jahre, 103 Tage) von 1976.

Zwei sehr unterschiedliche Hälften

Am Sonntag spielten die zwei besten Teams des Turniers ein mittelprächtiges Finale mit sehr unterschiedlichen Hälften. Die Engländer legten los, als hätten sie den Brief jeder dreimal gelesen, den die Queen der Mannschaft vor dem Finale zur literarischen Erbauung übermittelt hatte: "Ich übersende meine besten Wünsche für Sonntag, in der Hoffnung, dass die Geschichte nicht nur Ihren Erfolg würdigen wird, sondern auch den Geist, die Hingabe und den Stolz, mit dem Sie sich präsentiert haben."

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Mit Hingabe, aber ohne übertriebenen Geist, schoss zunächst Harry Maguire, der sich am eigenen Strafraum bedrängen ließ, nach 60 Sekunden den Ball über die eigene Torlinie. Ein kleines bisschen Lampenfieber. Der Eckball der Italiener verpuffte - aber dann folgte ein Angriff, der die Queen vor dem Fernseher sicher stolz machte. Harry Kane trug den Ball durchs Zentrum, spielte auf die rechte Flanke zu Kieran Trippier. Der flankte auf links, wo der einlaufende Shaw aus wenigen Metern mutig per Dropkick vollstreckte. Auf der Tribüne herzte Prinz William seinen Sohn, Prinz George grinste und klatschte. Es lief ja auch alles nach Plan.

Trainer Gareth Southgate bot erstmals wieder jene Dreierkette auf, mit der er im Achtelfinale die DFB-Elf lahmgelegt hatte. Torschütze Shaw war der weit vorgerückte Linksverteidiger, Flankengeber Trippier der Rechtsverteidiger in seinem System, das zunächst blendend funktionierte. Die Italiener änderten nichts, dachten sich wohl: Wer 33 Spiele nacheinander ungeschlagen ist, der muss sich auch für ein EM-Finale nichts Verrücktes überlegen.

Dieses Duell der zwei defensiv besten Mannschaften des Turniers begann als lauffreudiges Spektakel. Weil Italien zum Toreschießen verdammt war, dafür aber zu wenig unternahm, die feurigen Engländer aber nicht mauerten, sondern ihrerseits auf einen zweiten Treffer drängten. Als wollten sie auf Nummer sicher gehen, sich mit einem Auftritt voller Hingabe einen Eintrag in der Enzyklopädie des britischen Fußballs zu verdienen. Und ihr Trainer Southgate war zunächst nicht darauf bedacht, die Spieler darüber zu informieren, dass hierzu ein dreckiger Sieg genügen würde.

Italien spielte so geduldig, als verfolge es einen geheimen Plan, der auf dem Konzept einer Spieldauer von zweimal 180 Minuten basiert. Die einzige Chance in der ersten Halbzeit erspielte sich der schnelle Federico Chiesa ganz allein, als er im Zentrum durchbrach und aus 20 Metern den Ball neben den Pfosten setzte. Die Engländer zogen daraufhin in aller Ruhe zwei Verteidigungslinien in und vor ihren Strafraum. Es sah aus wie eine Hommage an die Tradition ihrer Gäste, den guten alten Catenaccio, mit dem sich Italien früher zu vier Weltmeistertiteln gemauert hatte. Und Mancinis modernes Italien vermochte aus dem Spiel heraus keine Antwort darauf zu finden; alle Versuche, einen Pass steil durch die britischen Reihen zu schicken, schlugen fehl.

Mancinis Team blieb auch in der Verlängerung die aktivere Mannschaft

Die Partie war soeben erst wieder angepfiffen, da kam Sterling nach einem Rempler von Bonucci im Strafraum zu Fall. Im Halbfinale gegen Dänemark hatte Sterling mit einem etwas übertrieben theatralischen Fall den entscheidenden Elfmeter herausgeholt. Diesmal blieb der Pfiff aus.

Mancini brachte den Stürmer Domenico Berardi für den völlig unauffälligen Ciro Immobile. Die Partie aber blieb sich treu: viel Lauferei, wenig Chancen. Maguires Kopfball flog über die Latte, auf der anderen Seite schoss Lorenzo Insigne aus maximal spitzem Winkel den britischen Torwart Jordan Pickford an. Gefährlich wurde es für Pickford erst, als Chiesa sich abermals ganz allein durch den Strafraum wühlte und den Abschluss fand.

Italiens Ausgleich fiel angesichts immer defensiverer Engländer nicht unverdient: Nach einer Ecke lenkte Pickford einen Kopfball von Verratti noch an den Pfosten. Von hinten aber rauschte der Innenverteidiger Leonardo Bonucci heran und staubte ab (67.).

Das 1:1 durch Leonardo Bonucci. (Foto: CARL RECINE/REUTERS)

Southgates Catenaccio schien sich nun zu rächen. Die Italiener spürten, dass die Engländer zu früh das Risiko aus ihrem Spiel entfernt hatten. Vielleicht hätte Southgate in der Kabine die Zeilen der Queen noch mal rezitieren sollen, von Hingabe war nun wenig zu spüren. Italien drückte, nach einem sagenhaften Steilpass von Bonucci, der von Selbstbewusstsein kündete, schoss Berardi über die Latte. Noch in der regulären Spielzeit ereilte Italien das größtmögliche Unglück: Der nimmermüde Chiesa verletzte sich in einem Laufduell und musste den Platz verlassen. Immerhin konnte der angeschlagene Jorginho weitermachen.

Mancinis Team blieb auch in der Verlängerung die aktivere Mannschaft; der für Chiesa eingewechselte Federico Bernardeschi sprang nur haarscharf an einer Flanke vorbei, die ihn fast auf der Torlinie erreichte. Auf der anderen Seite verpasste John Stones knapp vor Italiens Torwart Donnarumma. Diese Partie hatte schon längst keinen Sieger mehr verdient.

Die Engländer rannten nun etwas mehr, sie wollten das Elfmeterschießen verhindern, sie rannten an gegen ihr Trauma. Es war zu spät.

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