Englands Verteidiger Luke Shaw:Ritterschlag von Roberto Carlos

Euro 2020 - Quarter Final - Ukraine v England

Beobachter bescheinigen Luke Shaw (vorn, beim 4:0 gegen die Ukraine) außergewöhnlichen Talentreichtum - und exzellente Flanken schlägt er auch noch.

(Foto: Ettore Ferrari/Reuters)

Vor ein paar Jahren hätte Luke Shaw beinahe sein Bein verloren. Vom Schmerzensmann hat er sich zum Liebling der Nation gemausert - und wird mit neuem Spitznamen gewürdigt.

Von Sven Haist, London

Kaum ein Spieler findet auf der Insel momentan mehr Erwähnung als Luke Shaw. Seine Beliebtheit basiert auf seinen vorzüglichen Leistungen als Linksverteidiger der englischen Nationalmannschaft bei dieser EM, aber vor allem auf seinem markanten Spitznamen, der wiederum seinen Leistungen entsprungen ist. Spätestens nach Englands eindrucksvollem Erfolg über die Ukraine im Viertelfinale, bei dem Shaw zwei der vier Tore vorbereitete, nutzen die Teamkollegen jede Gelegenheit, um ihn würdigend als neuen "Shawberto" aufzuziehen. Der Rufname ist eine Kreuzung seines Namens mit dem des brasilianischen Weltmeisters Roberto Carlos, der zur Jahrtausendwende als bester Linksverteidiger der Welt galt und für seine mächtige Schusstechnik bewundert wurde.

An diese Lebensleistung kommt der bei Rekordmeister Manchester United angestellte Shaw, 25, zwar noch nicht heran (ebenso wenig wie an dessen Oberschenkelumfänge), aber seine graziösen Flanken bestanden zuletzt durchaus den Vergleich mit denen seines Vorbilds. Mit drei Torvorbereitungen liegt Shaw auf dem zweiten Platz der besten Vorlagengeber des Turniers - und könnte mit einem weiteren Assist im Halbfinale gegen Dänemark am Mittwoch (21 Uhr) zum Schweizer Steven Zuber aufschließen, der mit seiner Elf schon ausgeschieden ist. Sein effektives Zusammenspiel auf der linken Seite mit dem vor ihm postierten Raheem Sterling gilt als maßgeblich für England beim Herausspielen von Torchancen. In vielen Situationen zieht es Sterling als Anspielstation ins Zentrum, wodurch Shaw den Freiraum besitzt, mit seiner Dynamik nachzurücken. Auf diese Weise ist sowohl gegen Deutschland als auch die Ukraine ein Treffer entstanden. Die Medien überboten sich mit Komplimenten: Das Massenblatt Sun bezeichnete ihn als "unwahrscheinlichen Helden" des Erfolgs; die Times fand, dass sich Shaw auf seiner Position zu den Größen Stuart Pearce und Ashley Cole einreihen könnte.

Unter Mauricio Pochettino avancierte er in Southampton zur Stammkraft. In Manchester unter José Mourinho litt er Qualen

Zu den wenigen Fachleuten auf der Insel, die diese positive Entwicklung prophezeit haben, gehört Les Reed. Bis zum Ende des Vorjahres hat Reed, 68, als Technischer Direktor den Verband modernisiert und war zuvor achteinhalb Jahre für den FC Southampton tätig. Dort hat er im November 2012 auch das Premier-League-Debüt des 17-jährigen Shaw erlebt, der sich einst mit acht der landesweit geschätzten Akademie angeschlossen hatte. "In seinem Jahrgang hat Luke stets zu den drei besten Spielern gehört", sagt Reed am Telefon: "Er hat eine sehr schnelle Auffassungsgabe, ein hohes Spielverständnis, kann sich im Zweikampf durchsetzen und besitzt die seltene Fähigkeit, exzellente Flanken zu schlagen. Er hat ein Allround-Paket auf seiner Position."

Jahrelang nahmen seine Eltern mindestens drei Mal pro Woche die circa 120 Kilometer lange Strecke aus Südlondon nach Southampton auf sich. In der Jugend spielte Shaw mit Freistoßspezialist James Ward-Prowse, Matt Target und Harrison Reed zusammen, die alle auch Profis wurden. Aus den älteren Jahrgängen hatten in Southampton bereits die ebenso technisch versierten Gareth Bale, Theo Walcott, Adam Lallana und Alex Oxlade-Chamberlain den Durchbruch geschafft. Les Reed kennt das Geheimnis: "Das ist der Southampton-Weg. Unser Leitgedanke ist immer gewesen: üben, üben, üben! Diese Mentalität hat Luke implementiert. Sein Lernstil ist es, praktisch zu arbeiten und ständig zu wiederholen. Dabei benötigt er kaum Anweisungen, weil er sofort versteht, was von ihm verlangt wird."

Unter seinem Förderer Mauricio Pochettino verbesserte Shaw seine Fitness und war fortan als Stammspieler nicht mehr wegzudenken. Bereits vor seinem Transfer im Sommer 2014 für knapp 40 Millionen Euro zu Manchester United - der ihn zu dieser Zeit zum teuersten Teenager machte -, buhlten mehrere Spitzenklubs um ihn. Beim Rekordmeister sollte der 18-Jährige links hinten in die Fußstapfen des Kapitäns Patrice Evra treten. Der Wechsel sei anfangs schwer für ihn gewesen, sagt Reed, weil er erstmals in seinem Leben zu einem neuen Verein gekommen sei. Dazu hätte er bei United nicht mehr dieses Mentoring erhalten wie in Southampton.

Nach seiner Einstandssaison in Manchester erlitt Shaw im September 2015 bei einer Champions-League-Partie in Eindhoven einen fürchterlichen doppelten Beinbruch. Knapp zehn Minuten musste er auf dem Platz behandelt werden, bevor er im Krankenhaus operiert wurde. Als ihn die Ärzte nach Manchester ausfliegen lassen wollten, wurden im letzten Moment zwei Blutgerinnsel entdeckt, die einen Noteingriff erforderten. Reed sagt: "Luke hat einen enormen Willen und Glauben an sich selbst. Für ihn war die Zuversicht der Mediziner entscheidend, dass er es zurück auf den Platz schaffen kann. Das hat ihm die Hoffnung gegeben, mit seinem Fleiß wieder das alte Niveau erreichen zu können."

Auf den letzten Drücker in den EM-Kader gerutscht, ist Shaw nun Englands bester Vorlagengeber

Fast eine Saison verbrachte Shaw in der Reha, ehe ihn zu Beginn der Amtszeit des streitbaren Trainers José Mourinho im Sommer 2016 ständig Folgeblessuren schwächten. Mit gewohnt unablässiger Kritik versuchte Mourinho ihn anzutreiben, doch die methodische Provokation führte nicht zum Ziel. Shaws gute Leistung im April 2017 erklärte Mourinho etwa mit dem frechen Satz, es sei "sein Körper mit meinem Kopf" gewesen. Kurz darauf mussten in einer Partie mehrere Profis verletzt ausgewechselt werden, darunter auch Shaw, was Mourinho zum höhnischen Kommentar veranlasste, seine Spieler könnten nicht mal "vom Bett zur Toilette" laufen, ohne sich ein Bein zu brechen. Nicht lustig für Shaw, dessen rechtes Bein infolge seiner schweren Verletzung beinahe hätte amputiert werden müssen.

Manchester United v Tottenham Hotspur - Premier League

Keine gute Verbindung: Als José Mourinho Manchester United trainierte, fand er für Luke Shaw nicht dir richtige Ansprache.

(Foto: Michael Regan/Getty Images)

Erst kürzlich kritisierte Mourinho als EM-Kolumnist wieder, dass Shaw ordentlich gespielt habe, aber seine Ecken "dramatisch schlecht" gewesen seien. Als Reaktion sagte Shaw, niemand könne sich vorstellen, wie "schlimm" seine Zeit mit Mourinho wirklich gewesen war - und legte einen wunderbaren Auftritt für England gegen die Ukraine im Stadio Olimpico hin, Mourinhos künftigem Arbeitsplatz als Trainer der AS Roma. "Diese Motivationsspielchen haben mit Luke im Vergleich zu anderen Spielern nicht funktioniert. Trotzdem hat er nicht aufgegeben und sich der Herausforderung gestellt", sagt Les Reed. Englands Cheftrainer Gareth Southgate dagegen wisse, wie er Shaw handhaben muss, und hole das Beste aus ihm heraus.

Nach jahrelanger Leidenszeit hat es Luke Shaw auf den letzten Drücker in den EM-Kader geschafft. Obwohl er bereits im März 2014 für die Three Lions debütierte, hat er erst 14 Partien absolviert, vier davon in diesem Turnier. Seine ansprechende Form registrierte auch Roberto Carlos, der seinem neuen Namensvetter "Shawberto" vor ein paar Tagen über die sozialen Medien Beifall sendete. Ein Ritterschlag, fast so schön wie von der Queen.

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