Süddeutsche Zeitung

England bei der Fußball-EM:160 000 Pints in der Luft

England feiert mit dem 4:0 gegen die Ukraine den ersten EM-Halbfinaleinzug seit 1996 - und freut sich auf das Heimspiel gegen Dänemark vor 60 000 Zuschauern.

Von Sven Haist, London

Cheers! Die Pints flogen hoch und das Bier regnete runter. Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal, sondern viermal - und die englischen Fußballfans konnten davon immer noch nicht genug bekommen. Mit jedem Tor verfiel das Land am Samstagabend zur besten Sendezeit immer weiter in Ekstase. Der BBC-Kommentator rief der Nation bereits frühzeitig zu: "Enjoy your drinks!" Der fast rauschhafte Zustand des Landes dürfte mindestens bis Mittwoch anhalten, wenn England im Duell mit Dänemark erstmals seit 1996 wieder ein EM-Halbfinale bestreiten wird.

Neben dem furiosen und ungefährdeten 4:0 im Viertelfinale über die Ukraine in Rom beschenkte das Team des Nationaltrainers Gareth Southgate die eigenen Fans mit einem weiteren Mitbringsel: dem nächsten Heimspiel in Wembley. Im englischen Nationalstadion, in dem die Three Lions bislang ihre drei Vorrundenspiele sowie das Achtelfinale absolviert haben, werden ab jetzt alle Finalpartien dieser EM stattfinden - und zwar mit 60 000 Zuschauern, so vielen wie nie seit Beginn der Pandemie.

Die Stimmungslage der Bevölkerung auf der Insel, die mittlerweile nicht nur vom ersten Titel überhaupt nach dem WM-Heimsieg 1966 träumt, sondern auch fest davon überzeugt ist, gab am besten der Daily Mirror am Spieltag wieder. "Yes we Kane", hieß die Titelzeile des Boulevardblatts - und wie Kapitän Harry Kane und seine Mitspieler konnten. Schon nach 212 Sekunden gab Kane mit seinem zweiten Turniertreffer die Richtung für seine Mitspieler vor. Es war das früheste EM-Tor der Engländer seit dem Treffer von Michael Owen im verlorenen Viertelfinalduell mit Portugal 2004, und eines, das frühzeitig alle Erinnerungen an die EM-Achtelfinal-Blamage gegen Island vor fünf Jahren verfliegen ließ.

Englands Abwehr ist seit mehr als elf Stunden ohne Gegentor

Die letzten Zweifel räumten die Three Lions dann in der zweiten Halbzeit aus, als Abwehrkoloss Harry Maguire nicht mal eine Minute nach Wiederanpfiff traf und kurz darauf wiederum Kane den Ball im ukrainischen Tor unterbrachte (50. Minute). Durch Maguires herrlichen Kopfballtreffer gelang England der erste Torerfolg nach einem Standard bei diesem Turnier, der großen Stärke bei der zurückliegenden WM 2018. Zu sehen war diese Qualität erneut beim Eckball in der 63. Minute, als der eingewechselte Mittelfeldmann Jordan Henderson zu seinem ersten Tor im 62. Länderspiel einköpfte. Wie ein fünfter Treffer für England fühlte sich das fünfte gegentorlose Spiel in diesem Turnier in Serie an, wodurch die eigene Abwehr nun insgesamt seit mehr als elf Stunden unbezwungen ist.

Nur ungern ließ das frisch ins Nationalteam verliebte England den Fußballtross um Trainer Southgate am Freitag nach Rom ausfliegen. Aus diesem Grund druckte die Times eine Postkarte der Mannschaft, mit Southgate im Vordergrund und dem Kolosseum als einer der herausragenden Sehenswürdigkeiten der italienischen Hauptstadt im Hintergrund. Der Gruß ins Heimatland: "Wish you were here!" Genauso fühlte es sich - bis auf circa 2500 englische Fans im Stadio Olimpico - für den Rest der Bevölkerung zu Hause vor den Fernsehern an, die sich wiederum nichts sehnlicher wünschte, als das eigene Team gegen die Ukraine im Wembley spielen zu sehen.

Um den Kummer zu vergessen, rechnete der Einzelhandel hoch, sollen die Leute kurzfristig geschätzte 350 Millionen Pfund ausgegeben haben, um sich daheim angemessen mit Essen und Getränken für das bisherige Spiel des Jahres einzudecken. Etwa 14 Millionen Menschen kündigten an, ein Grillfest zu organisieren. Das deckte sich mit den Angaben des Discounters Aldi, der 50 Millionen Burger, Würste und Steaks für diesen Anlass verkaufte. Weitere circa 150 Millionen Pfund ließen die Fußballanhänger in den unzähligen Pubs und Bars des Landes, wobei pro englischem Treffer hochgerechnet wurde, dass 40 000 Pints Bier in die Luft fliegen würden. Demnach müssten nun 160 000 Pints in die Luft geflogen anstelle in durstige englische Kehlen geflossen sein.

Southgate wirft die Vorsicht über Bord - zumindest für ein Spiel

Diese landesweite Euphorie-Welle versuchte Southgate bei seiner Aufstellung weiter zu reiten, indem er nach dem historischen 2:0 über Deutschland vor vier Tagen lediglich zwei personelle Änderungen vornahm. Obwohl seine beiden Mittelfeldspieler Declan Rice und Kalvin Phillips, ebenso wie Abwehrchef Maguire, bei einer weiteren Gelben Karte im Halbfinale gesperrt gewesen wären, standen sie jeweils in der Startelf. Damit erfüllte Southgate die Forderung des Boulevardblatts Sun, das "die Vorsicht" über Bord geworfen sehen wollte.

Mit dem bis vergangenen Montag vorsorglich für zehn Tage in Quarantäne isolierten Spielmacher Mason Mount und Außenangreifer Jadon Sancho kehrte England zurück zum erfolgreich praktizierten 4-3-3 aus der Vorrunde. Der Plan war, mit den pfeilschnellen Sterling auf links und Sancho auf rechts - dessen 85-Millionen-Transfer von Borussia Dortmund zu Manchester United am Donnerstag bestätigt worden war - die dichte Abwehrreihe der Ukrainer auseinander zu ziehen, um dazwischen Spielraum für Mount und Kane zu schaffen. Exemplarisch gut gelang das beim Führungstreffer: nach einem Dribbling quer zur Verteidigungslinie setzte Sterling mit einem feinen Pass in die Schnittstelle seinen Sturmkollegen Kane in Szene.

Wie kaum anders zu erwarten gewesen war, dominierte England das Spiel aus einem komfortablen Ballbesitz heraus fast nach Belieben. Beinahe hätte Sancho dabei in seinem ersten Startelfeinsatz in einem Pflichtspiel für die Three Lions nach zehn Monaten sein erstes Turniertor erzielt. Sein Drehschuss im Strafraum war jedoch nicht präzise genug. Die Dominanz bewegte den bekanntesten Fußballer der Ukraine und jetzigen Nationalcoach Andriy Shevchenko, auf der Insel bekannt aus seiner Spielerzeit beim FC Chelsea, zu einem frühen Paradigmenwechsel. Nach einer halben Stunde passte Shevchenko die eigene 3-5-2-Anordnung der englischen Ausrichtung an, aber an die Qualität des Gegners kam sein Team trotzdem nicht heran.

Der bei Meister Manchester City unter Vertrag stehende Linksaußen Oleksandr Zinchenko hatte schon vorab geunkt, dass die englischen Reservisten drei Mal so viel wert seien wie das ukrainische Aufgebot. Dieser Klassenunterschied machte sich speziell in der zweiten Halbzeit bemerkbar, als den Engländern erstmals in der Historie einer EM drei Treffer per Kopf gelangen - und damit in Summe vier Treffer, so viel wie nie in einem K.-o.-Spiel seit dem Finalsieg über Deutschland bei der WM 1966.

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