Harry Kane ließ sich auf den Rücken fallen, rutschte auf dem Po über den Rasen des Wembley-Stadions, rüber zur Eckfahne, ausgerechnet Kane, was für eine Pointe!
In England haben sie zuletzt gerätselt, was denn in Harry Kane gefahren sein könnte. Bei Tottenham Hotspur hatte er doch in der Premier League so zuverlässig getroffen, dass sich englandweit die Tornetze wellten. Kaum schlüpfte der Mann, von dem Historiker hartnäckig behaupteten, es handle sich um den erfolgreichsten Schützen der WM 2018, ins Nationaltrikot bei dieser EM, da entsagte er plötzlich dem Toreschießen.
Seit Dienstagabend in Wembley ahnt man, was da los war: Harry Kane aus Walthamstow, East London, ein international anerkannter Spaßvogel, er hatte von langer Hand alles für exakt diese Pointe geplant: Drei Partien nichts tun, und dann wie ein Überfallkommando über die DFB-Elf herfallen. Um sich für die, aus Sicht der Engländer, grauenvolle gemeinsamen Fußballhistorie zu rächen, in der England viel zu oft tatenlos in ein Verderben gerutscht war, in dem dann sehr oft irgendwer einen Elfmeter verschoss.
Es lief die 86. Minute, eine Flanke von Jack Grealish. Kane drückte sie im Fallen über die Linie.
Im Stadion der Schrei von 40 000 Fans, die sich zu ihrer (und wohl auch jener der ansteckenden Delta-Variante) Freude aufeinander warfen. Kein Elfmeterschießen heute. 2:0 für England. Und Deutschland war raus. Football's staying home. In Wembley.
In der zweiten Halbzeit hatte erst Raheem Sterling die Briten in Führung geschossen, dann hatte zehn Minuten vor Schluss Thomas Müller nach einem Konter die beste Chance auf den Ausgleich vergeben. Und so endete am Dienstagabend die Amtszeit von Bundestrainer Joachim Löw nach 15 Jahren mit einer sehr rätselhaften Turnierbilanz.
Ein Spiel wie in einem Taktikseminar
Dieser Ball, den die Deutschen bei dieser EM bewegt haben, man würde ihn wirklich gerne mal zu einer Therapiesitzung schicken, um herauszufinden, welches der gezeigten Wesen nun sein wahres ist. Unter Hypnose, damit nicht geflunkert wird. Gegen Frankreich lief Löws Ball unglaublich schüchtern, hätte man ihm ein Gesicht aufgemalt wie dem nervigen Volleyball von Tom Hanks in Cast Away, er hätte den Mund nicht aufgetan. Gegen Portugal sprang er euphorisch von Fuß zu Fuß, gegen Ungarn rollte er auf Wegen, die nur er verstand. Und nun gegen England? Als sei er eigentlich zum Schach und nicht zum Fußball bestimmt gewesen, bewegte sich der Ball um- und vorsichtig. Wie in einem Taktikseminar. Einem, in dem ganz langsam gesprochen wird, damit bloß jeder mitkommt.
Hatte Löw in den zwei Partien zuvor gegen die Volksmeinung rebelliert (erfolgreich gegen Portugal, indem er Joshua Kimmich weiter Rechtsverteidiger spielen ließ; weniger erfolgreich gegen Ungarn, als er Leroy Sané brachte), handelte er diesmal fast wie erwartet. Er brachte den genesenen Müller. Und schickte den vormals noch unter den Spätfolgen eines Muskelfaserrisses leidenden Leon Goretzka erstmals bei diesem Turnier von Beginn an in den Maschinenraum des deutschen Spiels. Dort schuftete Goretzka mit seinem Kraftkörper anstelle von Ilkay Gündogan an der Seite des Bewegungskünstlers Toni Kroos, von dem man bis heute nicht weiß, ob er für sein herrschaftliches Passspiel überhaupt Muskeln benötigt. Der Harte und der Zarte, sie bildeten an diesem Tag ein tadelloses Duett. Die überraschende Note, die Löw immer braucht in seinen Symphonien, webte er ein, indem er Timo Werner für Serge Gnabry in die vorderste Sturmreihe beorderte.
Vorsichtig legten die Deutschen los. Nicht so energisch wie gegen Portugal, aber auch nicht so schlapp wie gegen Frankreich. Erst einmal abwartend. Englands Trainer Gareth Southgate hatte seine Elf im Vergleich zur Vorrunde schließlich etwas anders eingestellt, indem er auf eine Dreierkette umstellte.
In der ersten Viertelstunde wurde tatsächlich ein Plan von Löw sichtbar: Pässe sowohl aus der Abwehr als auch aus dem Mittelfeld in die Tiefe. Deshalb auch die Nominierung des schnellen Werner. Aber nicht alles funktionierte. Kai Havertz spielte links raus in den Lauf von Robin Gosens, der aber lief gar nicht erst los. Am meisten beeindruckten zu Beginn zwei Balleroberungen von Kroos. Und dann, sieben Minuten waren gespielt, ein exzellenter Pass von Müller in den Lauf von Goretzka: Der rannte los wie ein Brauereipferd, Engländer klebten links und rechts an ihm wie Fliegen, dann allerdings wurde er kurz vor Abschluss und Strafraum auf eine derart robuste Weise gefällt, die sich Fliegen nicht zu eigen machen. Den Freistoß aus bester Position entsandte Kai Havertz in die Mauer.
Neuer zeichnet sich aus
Die Engländer? Überließen den Deutschen weitestgehend den Ball. Und ignorierten wie schon in der gesamten Vorrunde erfolgreich ihren eigentlich besten Torschützen Harry Kane. Nach 15 Minuten beschloss Raheem Sterling, trotzdem endlich mal Manuel Neuer aufzuwärmen: ein satter Schuss, ein prächtiger Reflex. Da er jetzt schon mal warm war, konnte Neuer auch noch den folgenden Kopfball von Harry Maguire mit Leichtigkeit schnappen.
Viel zu selten, nur einmal, kam Deutschland zu einer Chance, bei der die Spieler die Breite des gesamten Platzes nutzten. Havertz spielte auf den Flügel zu Kimmich, der flankte auf Gosens, seinen gegen Portugal so kongenialen Partner auf der anderen Seite - heute aber fanden sich zwischen Gosens und dem Ball ein paar Meter zu viel. Die beste Gelegenheit in der ersten Hälfte hatte der schnelle Werner, der von Havertz klassisch auf dem linken Flügel in den Sprint geschickt wurde.
Wer die Partien beim FC Bayern während ihrer legendären Sechs-Pokale-Empfängnis-Monate verfolgt hat, der hat gelernt, dass die Mannschaft immer dann am besten gespielt hat, wenn Goretzka und Kimmich im Herz des Spiels operierten. Wie Ball und Partie gelaufen wären, hätte man Kimmich von der Arbeit am Rande des Spiels erlöst?
Deutschland nahm nun erstmals Tempo aus dem Spiel. Möglicherweise schläferte das Müller derart ein, dass er kurz vor dem Pausenpfiff einen irren Fehlpass spielte, den Sterling erlief. Dass England daraufhin nicht in Führung geriet, verhinderte erst Matthias Ginter mit einer Rettungstat bei Sterling, dann Hummels mit einer Monstergrätsche, mit der er Harry Kane (den der Ball selbstverständlich auf Umwegen erreichte und nicht nach Zuspiel eines Teamkollegen), gerade noch so vor dem Abschluss fernhielt.
Ein raketenschnelles Geschoss von Havertz
Offenbar beschlossen sie noch in der Kabine, sofort Revanche zu nehmen für diese beste Chance der Engländer: die DFB-Elf stand gerade erst wieder auf dem Platz, da lenkte Englands Schlussmann Jordan Pickford ein raketenschnelles Geschoss von Havertz über die Latte, das Neuer sicher auch gerne gehalten hätte.
Immer langsamer, abwartender lief der Ball nun in den Reihen der Teams. Als wären sie auf beiden Seiten in Besitz eines geheimen Plans, der sich allerdings nur ihnen und nicht den Zuschauern erschloss. Deren Müdigkeit wurde verdrängt von der Erinnerung an die legendären Worte von Franz Beckenbauer über das Genre England gegen Deutschland: "We call it a Klassiker". Irgendwas musste doch noch passieren!
Damit es noch ein Klassiker nach seinem Gusto werden würde, brachte Löw nach 69 Minuten Gnabry für Werner. Das machte das Spiel weder flotter noch strukturierter. Dann traf erst Sterling, dann vergab Müller. Und es schlug die große Minute von Harry Kane. Erstmals seit 55 Jahren hatte England bei einem großen Turnier ein K.o.-Spiel gegen Deutschland gewinnen können.
Auf der Schule würde man einem wie Löw nach so einer rätselhaften Gesamtleistung die Versetzung weder verweigern noch empfehlen. Man würde ihm zurufen: Mach doch einfach, was du willst!
Macht er ja. Er geht jetzt. Verlässt den DFB, das war schon vor dem Turnier so ausgemacht. "Nach 15 Jahren an der Spitze wird es mir guttun, mich von der Verantwortung zu lösen. Eine emotionale Pause ist wichtig für mich, ich war so lange beim DFB, da sieht man sich nicht sofort um nach etwas Neuem", sagte Löw. "Ich muss die Enttäuschung und die Leere, die kommt, auch zulassen. So ein Turnier schüttelt man nicht in den ersten Tagen ab, da wird man Zeit benötigen", ergänzte er.
Löw geht als einer von nur vier deutschen Weltmeistertrainern. Und ein paar von denen, die schon mit ihm dabei waren vor sieben Jahren, bei der denkwürdigen WM in Brasilien rund um das legendäre Trainingscamp Campo Bahia, sie werden auch morgen mit dabei sein. Wenn Löw noch einmal eine kleine Ansprache halten wird im weniger legendären Trainingscamp in Herzogenaurach. Der Torwart Neuer wird da sein, der Verteidiger Hummels, der Mittelfeldmann Kroos, der Strafraum- und Lebenskünstler Müller. Und dann werden sich die Wege trennen. Vermutlich nicht nur die von Löw und der deutschen Nationalmannschaft.