Die Tränen von Pierre-Emile Höjbjerg verrieten viel über das Gefühlsdurcheinander im dänischen Fußball: Freude, Wehmut, Rührung und Stolz übermannten den Spielgestalter Dänemarks nach dem Einzug ins Halbfinale. Höjbjerg vergrub sein Gesicht im Trikot des tröstenden Kollegen Thomas Delaney. "Ich hatte das Gefühl, dass er eine Umarmung gebrauchen konnte", sagte Delaney später grinsend, "alle Gefühle sind aus ihm herausgebrochen."
Dänemarks filmreifes EM-Drehbuch nimmt weiter Form an. Exakt drei Wochen nach dem Auftakt-Schock mit Christian Eriksens Herzstillstand und der 0:1-Niederlage gegen Finnland zog das Team am Samstagabend durch ein 2:1 (2:0) gegen Tschechien ins Halbfinale ein. Es war der dritte Sieg nacheinander nach einem 4:1 im finalen Gruppenspiel gegen Russland sowie einem 4:0 im Achtelfinale gegen Wales. Ein neuerliches Fest mit vier Treffern gelang ihnen gleichwohl nicht, obwohl das Fernsehen auf der Tribüne spontan einen dänischen Fan einfing, der schon nach der frühen 1:0-Führung vernehmbar "fire, fire, fire, nul" sang.
Flemming Povlsen im Interview:"Die Mannschaft fühlt sich unbesiegbar"
Der Europameister von 1992 vergleicht die Mannschaft von damals mit der heutigen, spricht über die Verarbeitung des Unfalls von Christian Eriksen und erklärt, was dänische Turniermannschaften auszeichnet.
Diese 1:0-Führung folgte allerdings auf ein Eckball-Geschenk des niederländischen Schiedsrichters Björn Kuipers. Sechs Tage, nachdem Tschechien die Niederlande im Achtelfinale aus dem Turnier geworfen hatten, gab Kuipers in der fünften Minute aus unerfindlichen Gründen eine völlig unberechtigte Ecke für Dänemark, die Jens Stryger trat und die der Dortmunder Delaney zum 1:0 einköpfelte.
Tschechien verpasst den ersten Halbfinaleinzug seit 2004
Kasper Dolberg erhöhte drei Minuten vor der Pause nach einer raffinierten Außenrist-Flanke von Joakim Maehle per schöner Direktabnahme auf 2:0, doch die Tschechen kamen zurück, als der Leverkusener Patrik Schick vier Minuten nach dem Seitenwechsel auf 1:2 verkürzte. Es war sein fünftes Turnier-Tor, wodurch er mit dem Portugiesen Cristiano Ronaldo gleichzog. Ein sechstes Tor wollte Schick allerdings nicht mehr gelingen. Elf Minuten vor Schluss wurde er verletzt ausgewechselt, und die Tschechen vermochten danach kaum mehr Torgefahr zu entwickeln. So endete die Partie ohne einen weiteren Treffer. Und Tschechien verpasste den ersten Halbfinaleinzug seit 2004.
Für die Dänen war das fünfte Turnier-Match das erste ohne erkennbaren Heimvorteil, denn nach drei echte Heimspielen in Kopenhagen und einem weiteren gefühlten vor etwa 12 000 Fans in Amsterdam waren die etwa 1500 dänischen Fans in Baku nicht so deutlich zu vernehmen. Einer leidenschaftlichen und effektiven ersten Halbzeit tat dies allerdings keinen Abbruch. In der zweiten Hälfte raubte den dänischen Spielern die schwüle Luft von Aserbaidschan zwar zunehmend den Atem, doch gegen ebenfalls abbauende Tschechen brachten sie die knappe Führung nicht unverdient heim. "Es war nicht unser bestes Spiel", sagte Delaney, konnte dieses Manko aber ganz gut verkraften.
Ob sie jetzt tatsächlich sogar ins Finale einziehen, zeigt sich am Mittwoch in London. 1992 hatte Dänemark das EM-Endspiel gegen jenes Deutschland gewonnen, gegen das Tschechien sein EM-Endspiel vier Jahre später verlor. Erstmals seit 2004 gehörten die Tschechen jetzt wieder zu den besten Teams einer EM. "Es haben nicht viele Menschen an uns geglaubt", sagte Schick nach der Niederlage, "aber wir haben gezeigt, dass wir mit den Großen mithalten können."
"Was ist das für eine verrückte Reise", sagt der Dortmunder Thomas Delaney
Sie wären auch gerne zum Showdown nach London gereist, doch nach Wembley dürfen jetzt die Dänen. "Was ist das für eine verrückte Reise", sagte Delaney nicht als Frage, sondern als Feststellung. "Die Flügel der Sympathie tragen uns weiter", sagte der Trainer Kasper Hjulmand, "und wir geben etwas zurück an alle, die uns in der Heimat die Daumen drücken."
Ob sie vom Titel träumen, wurde Delaney in der Pressekonferenz noch gefragt, doch statt eine Antwort zu geben, verwies er auf den sensationellen EM-Gewinn Dänemarks 1992. "Meine Generation ist aufgewachsen mit den Legenden von damals", sagte er lächelnd. Und wer wollte, konnte aus Delaneys Lächeln ebenso einen Traum herauslesen wie zuvor aus Höjbjergs Tränen.