EM 2021:Aus großen Tiefen

Germany v Hungary - UEFA Euro 2020: Group F

Traurige Helden: Die ungarischen Spieler verlassen das Münchner Stadion und die EM. In der schweren Gruppe F mussten sie gegen drei übermächtig erscheinende Gegner nur eine Niederlage einstecken - 0:3 gegen Portugal.

(Foto: Kai Pfaffenbach/Getty Images)

Ungarn scheidet nach unbelohntem Kampf aus dem Turnier aus, dennoch ist man in der Heimat stolz auf Szalai, Gulasci und Co. Man gehe erhobenen Hauptes, sagt Trainer Marco Rossi.

Von Stefan Galler, München

Müde waren die Recken nach ihrer unbelohnten Abwehrschlacht. Und natürlich unendlich traurig. Nicht nur Andras Schäfer liefen die Tränen über die Wangen. Der Mittelfeldspieler der Ungarn hatte wie seine Mannschaftskollegen alle Kraft in diese Partie geworfen, er schien bis ein paar Minuten vor dem Ende wegen seines Treffers zum 2:1 auf dem Pfad zum Matchwinner zu sein. Der 22-Jährige, der beim slowakischen Klub Dunajska Streda spielt und auch schon beim FC Genua in Italiens Serie A vergeblich sein Glück versucht hat, war unmittelbar nach dem 1:1 von Kai Havertz wie ein Sprinter in den deutschen Strafraum gerauscht und brachte den überfallartigen Angriff per Kopf zu einem erfolgreichen Ende.

Genau ein solches sollte den Ungarn am Ende wegen Leon Goretzkas 2:2-Ausgleichstor verwehrt bleiben, obwohl sie bis auf die ersten zehn und die letzten sechs Minuten während der gesamten Partie in Führung und auf Achtelfinalkurs gelegen hatten. "Es tut weh, es tut wirklich weh, vielleicht hat es noch nie so weh getan, obwohl ich schon länger dabei bin", schrieb Mittelstürmer Adam Szalai, 33, der andere ungarische Torschütze, am Tag danach auf seiner Facebook-Seite.

Auch Szalai hatte unmittelbar nach dem Spiel geweint, als er mit seiner Mannschaft und den Fans die ungarische Nationalhymne sang. Dabei gaben die Anhänger ein weitaus besseres Bild ab als während und vor allem vor der Partie. Schon beim Aufwärmen der DFB-Elf hallten "Deutschland, Deutschland, homosexuell"-Rufe aus dem Block, in dem Mitglieder einer rechtsextremen Gruppierung von der Polizei bewacht wurden. Während sich die deutschen Spieler zu ihrer Hymne aufstellten, wandten ihnen Teile der Gäste-Fans den Rücken zu.

Szalai kam in Mainz zuletzt erst nach dem Trainerwechsel unter Bo Svensson wieder zum Einsatz

Die ungarischen Spieler zeigten sich unbeeindruckt von all den politischen Diskussionen der letzten Tage um Regenbogenfarben und das schwulenfeindliche Gesetz der Regierung Orban in der Heimat. Und sie entkräfteten die Vermutung vieler Experten, die Magyaren könnten nur in ihrem eigenen Stadion so leidenschaftlich auftreten wie beim 1:1 gegen Weltmeister Frankreich in Budapest. Der italienische Trainer Marco Rossi hatte sein Team prächtig eingestellt, nicht nur der eisenharte Attila Fiola nutzte die großzügige Regelauslegung des russischen Schiedsrichters Sergej Karassew kompromisslos. Und erneut zeigte sich der Außenseiter in der Chancenverwertung enorm effektiv, der starke Freiburger Roland Sallai und der Mainzer Szalai als Stoßstürmer wirbelten die deutsche Abwehr bei ihren wenigen Vorstößen gehörig durcheinander.

Dass ausgerechnet Adam Szalai einer der Protagonisten dieses Abends werden würde, war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Er hatte in der abgelaufenen Bundesligasaison bei Mainz 05 - auch wegen einer Knieverletzung - zunächst überhaupt keine Rolle gespielt und erst in der Rückrunde unter dem neuen Trainer Bo Svensson regelmäßig zur Aufholjagd im Abstiegskampf beigetragen. Dann hatte er gegen Frankreich nach einem Zusammenprall wegen Kreislaufproblemen früh den Dienst quittieren müssen.

Nun biss Szalai sich durch und war am Dienstag eine der Leitfiguren, ebenso wie Leipzigs Willi Orban als zentraler Abwehrspieler und dessen Klubkollege, Torwart Peter Gulacsi, der sich vor dem 1:1 vergeblich nach dem Ball streckte - ein schweres Malheur. "Wir haben ein gutes Spiel gemacht. Klar hat Deutschland dominiert. Am Ende ist es Pech für uns und Glück für Deutschland", sagte der 31-Jährige nach dem Spiel im ZDF. Allerdings sei die Gruppe auch "das schwerste, was man in Europa bekommen kann", so Gulacsi weiter.

Auch für die Ungarn steht ein richtungsweisendes Duell mit England an: In der WM-Qualifikation

Trainer Rossi betonte ebenfalls die Schwere der Aufgabe: "Ich kann jedem sagen, dass er mal gegen diese drei Mannschaften antreten muss. Dass wir da Punkte holen - wir haben zwei Punkte geholt -, das hätte mir vorher keiner geglaubt." Seine Spieler könnten diese EM "erhobenen Hauptes verlassen, darauf können sie noch in vielen Jahren stolz sein".

Das sieht man auch in der Heimat so, die Presse dort feierte Coach und Mannschaft frenetisch: "Unter der Leitung des Maestros Marco Rossi erhob sich die Auswahl aus großen Tiefen auf ein lange nicht gesehenes Niveau", schrieb die Tageszeitung Népszava. Man glaubt offenbar an den 56 Jahre alten Trainer, der als Profi lange in Brescia und Mitte der Neunzigerjahre auch mal ein Jahr für Eintracht Frankfurt gespielt hatte.

Als nächstes steht übrigens auch für die Ungarn ein richtungsweisendes Duell mit England an: Am 2. September in der WM-Qualifikationsgruppe I, in der sie aktuell hinter England und vor Polen Rang zwei belegen. Bis dahin dürfte die Trauer überwunden sein.

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