Turnerin Elisabeth Seitz:Sie wollte schon früh das Unmögliche

Turnerin Elisabeth Seitz: Ihre Welt: Am Samstag könnte Elisabeth Seitz abermals eine EM-Medaille am Stufenbarren holen, vielleicht Gold.

Ihre Welt: Am Samstag könnte Elisabeth Seitz abermals eine EM-Medaille am Stufenbarren holen, vielleicht Gold.

(Foto: Marijan Murat/dpa)

Elisabeth Seitz steht seit Jahren für den Erfolg des deutschen Turnens, kreierte in jungen Jahren ein eigenes Element. Bei der EM in Antalya hat sie nun eine weitere Medaillenchance am Stufenbarren.

Von Volker Kreisl

Warum nicht mal fliehen. Im Frühling, wenn die Sonne in Stuttgart allenfalls schwach schimmert und keineswegs wärmt, gäbe es Lösungen. Elisabeth Seitz ist ja trotz über zehn Jahren Leistungssport spontan, und Italien ist nahe. Zur Abwechslung reiste sie also in diesem Frühling für ein paar Wochen über die Alpen und turnte in einer zunächst fremden Welt, in der italienischen Liga.

Eigentlich aber ist ihre Welt eine andere. Sie ist deutlich kleiner, besteht aus zwei in der Luft quer liegenden Holmen, die unterschiedlich verspannt sind. Der untere auf 1,66 Metern Höhe, der obere auf 2,46 Metern. Dazwischen, dahinter, darüber und davor fühlt sich die Turnerin Seitz wie zuhause und hat es seit fast 13 Jahren zu großer Kunst gebracht. Am Samstag könnte sie abermals eine Medaille bei einer Europameisterschaft holen, vielleicht Gold.

Seitz reizte mit gut 18 Jahren nicht das Natürliche, sondern das Schwierige

Doch egal wie es ausgeht, für den Deutschen Turnerbund ist die 29-Jährige schon jetzt von großem Wert. Sie war aus den Qualifikationen als einzige deutsche Medaillen-Kandidatin hervorgegangen, was für die Bedeutung eines Olympia-Sports wichtig ist. Seitz signalisierte: Wir sind noch da. Etwas Aufmerksamkeit fiel zuletzt auch auf den erst 19-jährigen Wetzlarer Pascal Brendel, der es auf Rang acht im Mehrkampf bei seinem ersten Großereignis brachte. Das Team wird gerade immer jünger, Nachrückerinnen wie Schwebebalkentalent Emma Malewski werden dringend gebraucht, benötigen aber auch Zeit, um Routine zu entwickeln. So hatte sie die Rolle als Titelverteidigerin überfordert, in der Qualifikation schon musste sie absteigen, dem sid sagte sie: "Ich habe versucht, das auszublenden, aber das hat nicht so gut funktioniert."

Die Einrichtung von Seitz' Welt ist aus edlem und belastbarem Holz wie Eiche oder Kirschbaum, rund und 3,9 Zentimeter dick. Und wem diese zu niedrig erscheint, der kann sie um ein paar Zentimeter erhöhen, jeder justiert seine Welt anders, auch Seitz hat es sich so gemütlich wie möglich gemacht. Doch es hat gedauert.

Anfangs, als sie noch in der Eingewöhnung war, stürzte sie in die Matte oder holte sich blaue Flecken, und als sie dann immer sicherer turnte, als sie den Barren immer mehr mochte, kamen immer noch Tiefs auf in der Beziehung. Sogar neulich noch, als Seitz corona-geschwächt bei der Weltmeisterschaft in Liverpool ankam und dann auch noch knapp eine Medaille verpasste. Die Freuden haben in all den Jahren jedoch überwogen, denn es ist ihr durchaus einiges gelungen. Zum Beispiel die Erfindung von etwas scheinbar Unmöglichem, nämlich dem Seitz.

Die natürliche Art, am Stufenbarren von einem Holm zum anderen zu fliegen, ist jene mit dem Bauch nach unten und dem Kopf nach vorne, weil: Man sieht das Ziel. Doch dieses ist Turnen, und auch Seitz reizte mit gut 18 Jahren nicht das Natürliche, sondern das Schwierige, außerdem war es der Barren, vor dem hatte sie keine Angst. Also drehte sie sich im Direktflug vom niedrigen zum oberen Holm nicht nur ein halbes, sondern ein ganzes Mal um die Körperachse, und hatte beim Greifen des oberen Holms nicht diesen, sondern die Hallendecke im Blick. Der Nachteil: man stürzt erstmal viele Male, ehe der Holm in den Fäusten sitzt - der Vorteil: es gibt ordentlich Punkte oben drauf und etwas Turn-Ruhm, weil dieses scheinbar Unmögliche seitdem "der Seitz" heißt.

Nach mehr als einem Jahrzehnt dosiert sie nun ihre Kräfte

All das war nur möglich, weil die aus Heidelberg stammende Turnerin immer auch schon etwas verrückt war. Sich selber nannte sie einst "Wettkampfsau", vielleicht weil sie sich damit motivierte, vielleicht aber auch, weil ihr das Fokussieren und kraftvolle Auftreten mehr lag, als der im Frauenturnen immer noch beliebte Fokus auf Grazie.

Jedenfalls ist sie seit 13 Jahren dabei, gefühlt sogar seit 20 Jahren, alle möglichen Blessuren, etwa Sehnenrisse, hatte auch sie, und dennoch ist sie erst 29 Jahre alt. Mit 18 Jahren errang sie bei der Europameisterschaft in Berlin Mehrkampf-Silber, mit 25 holte sie WM-Bronze am Stufenbarren. Und schon vor ihrem Erscheinen auf der internationalen Bühne hatte sie regelmäßig die nationalen Meisterschaften beherrscht.

Nach mehr als einer Dekade auf höchstem Niveau dosiert auch Seitz nun ihre Kräfte. Mit Bundestrainer Gerben Wiersma hatte Seitz sich Anfang des Jahres verabredet, um nach einer neuen Gestaltung der Übungen zu suchen. Nach so vielen Jahren inspirieren die immer selben Abläufe auch die disziplinierteste Turnerin nicht mehr so richtig. Am Ende kamen die beiden zu einem überraschenden Ergebnis. Nach langer Suche, nach Abwägung von Vor- und Nachteilen beschlossen sie, sich die Zeit zu sparen und lieber mit dem Bewährten weiterzumachen.

Das klingt etwas bescheiden, ist aber eher weise, und es passt zu dem, was die einst angriffslustige Wettkämpferin aktuell in Antalya gesagt hatte. Auch wenn manche Teamkollegin sich ärgerte über den Misserfolg, so dürfe man nicht das eigentliche Ziel außer Acht lassen. "Wir sollten zufrieden sein", sagte Seitz in Antalya, "dass wir die WM-Qualifikation geschafft haben. Das war das Ziel."

Gut, ein anderes wichtiges hat sie schon auch noch, mit dem Stufenbarrenfinale am Samstag.

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