Elfmeterschießen bei der Fußball-EM:Brutaler Nervenkrieg kurz vor Mitternacht

Sogar gestandene Italiener weinen: Dieses Elfmeterschießen im Viertelfinale wird in Erinnerung bleiben. Auch, weil am Ende ein neuer, deutscher EM-Held geboren wird.

Von Thomas Hummel, Bordeaux

So ein Elfmeterschießen bleibt stets von seinem Ende her in Erinnerung. Wie Jonas Hector diesen sehr weiten Weg von der Mittellinie in den Strafraum abschritt, auf der anderen Stadionseite klatschten die deutschen Fans ihre Anspannung weg. Würde es nun endlich vorbei sein mit diesem 18. Schuss? Hector legte sich den Ball hin, ging zurück, blickte Gianluigi Buffon in die Augen, drückte die Luft aus den Lungen. Lief an und schoss so scharf, dass die Kugel unter Buffons Körper ins Tor flitzet.

Diese Form der Entscheidung über ein Fußballspiel ist hart. Vor allem, wenn so große Teile der Bevölkerung um kurz vor Mitternacht noch vor den Fernsehern sitzt. Ein Moment, ein Schuss teilt die Welt ein in ekstatische Jubler und in sich zusammenfallende Verlierer. Doch im Stade Matmut Atlantique von Bordeaux erlebte das Elfmeterschießen ein neues Ausmaß an Brutalität, nicht einmal der unverwüstlichste Eisenschädel konnte dem noch standhalten. Ein paar Minuten nach Hectors Schuss stand der stoische, robuste, niemals umfallende Andrea Barzagli neben dem Platz und weinte vor laufender Kamera.

Italien fährt nach diesem niemals vergessenen Viertelfinale nach Hause. Nach 90 Minuten Gegenwehr. Nach 30 Minuten Gegenwehr in der Verlängerung. Und nach diesen 18 Schüssen vom Elfmeterpunkt, die das Gemüt einiger harter Männer überforderte.

Müller und Özil vergeben vom Punkt

Da war Simone Zaza, der nur Sekunden vor dem Schlusspfiff eingewechselt wurde, um dann den Elfmeter weit über das Tor zu setzen. Nach ihm kamen Thomas Müller und Mesut Özil dran, die angeblich sichersten deutschen Schützen. Der eine schoss den Ball in Buffons Arme, der andere an den Pfosten. Müller sollte später sagen: "Die nächsten zwei Wochen überlasse ich den anderen den Vortritt." Dass er dies mit einem Lächeln im Gesicht sagen durfte und nicht als Versager der Nation, hatte er eh schon diesen anderen zu verdanken.

Es stand für die Deutschen ja nicht nur das Fortkommen im Turnier auf dem Spiel. Was ist so ein Viertelfinale bei der EM schon gegen einen Fluch? Gegen ein Trauma? Endlich einmal gegen Italien gewinnen, wenn es um was geht. Sie hatten alles versucht, waren in Führung gegangen durch Özil, waren die bessere Mannschaft gewesen. Doch Jérôme Boatengs Handspiel hatte die Italiener zurückgebracht, Leonardo Bonucci zum 1:1 ausgeglichen. So blieb es. Bis kurz vor Mitternacht.

Doch dieses Elfmeterschießen war selbst für den Verteidiger von Juventus Turin zu viel. Nachdem schon Graciano Pellè der Schuss völlig misslungen war, scheiterte Bonucci bei seinem zweiten Elfmeter an Manuel Neuer. Was Bastian Schweinsteiger den ersten Matchball für Deutschland bescherte. Schweinsteiger blickte sehr ernst, sehr konzentriert. Dann drosch er den Matchball rein in die Fankurve der Italiener.

Ein Fehlschuss - und alles wäre vorbei

"Es war ein Nervenkrieg", fand Neuer, "ich musste mich auf meine Sache als Torwart konzentrieren, habe aber auch gehofft, dass der Ball reingeht, wenn einer von uns da stand. Ich durfte mich davon nicht beeinflussen lassen." Es ging also weiter. Nun kamen diejenigen, die eigentlich nicht vorgesehen waren. Oder die zuvor nicht wollten. Doch die machten es besser als die selbstbewussten Spezialisten. Die Deutschen mussten nach den Treffern von Emanuele Giaccherini, Marco Parolo und Mattia De Sciglio stets nachziehen. Ein Fehlschuss, und die Sache wäre vorbei gewesen.

"Ich habe in dem Moment nicht so viel dran gedacht", gab Mats Hummels zu, "das war also keine mentale Stärke, sondern eher mentale Abwesenheit." Am Mittelkreis habe er noch gewusst, wohin er schießen wollte, das habe sich aber noch ganz oft geändert, bis er vorne angekommen war. "Zwei Sekunden vorher wollte ich eigentlich ins andere Eck schießen." Nach all dem Hin und Her flog der Ball knapp an Buffons Fingern vorbei ins Netz. Hummels' Durchatmen war bis unters Stadiondach als Luftzug zu spüren.

Ebenso verwandelten Joshua Kimmich und Boateng. Die beiden waren durchaus vorbelastet nach vorne gegangen, Kimmich hatte im DFB-Pokalfinale im Elfmeterschießen verschossen, Boateng war ja schon für den Ausgleich verantwortlich gewesen. "Mit den letzten Kräften" schoss Boateng sicher ins Eck.

Hector: "Den letzten Strafstoß habe ich in der Jugend geschossen"

17. Schuss, Matteo Darmian musste ran. Jeder Fußballer hofft inständig, dass nicht er derjenige ist, der so ein Spiel mit einem Fehlschuss entscheidet. Auch wenn klar ist, dass es jemanden treffen muss. Dieser jemand war in Bordeaux Matteo Darmian, 26 Jahre alt aus Legnano bei Mailand. Vielleicht hatte auch er hundert Mal hin und her überlegt. Vielleicht sich noch eine Sekunde vor dem Schuss umentschieden. Manuel Neuer tauchte ab und hielt den Ball. Der Weg war frei für Jonas Hector.

Der Saarländer vom 1. FC Köln stieß einen Jubelschrei aus wie bestimmt noch nie zuvor in seinem Leben. Hector hat ja viele Talente, doch Schreien oder Reden gehören definitiv nicht dazu. Er hätte ja nun von seiner heroischen Tat erzählen, sich zum Retter der Nation erklären können. Stattdessen sagte er sehr leise: "Den letzten Strafstoß habe ich in der Jugend geschossen." Eine Lieblingsecke? "Ne, hab ich nicht." Sehr erleichtert? "Ja." So einen letzten Schuss kurz vor Mitternacht kann man auch ganz einfach erklären.

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