Süddeutsche Zeitung

Hertha BSC:Die Steigerung von Wahnsinn heißt Fabian Reese

Lesezeit: 3 Min.

Der hochintensive Pokalerfolg der Berliner gegen den HSV liefert mehrere Protagonisten: Einen, der mitreißende Tore schießt - und einen, der aus der Welt der Influencer kommt und es auf die große Bühne des Fußballs geschafft hat.

Von Javier Cáceres, Berlin

Der Mann des Spiels musste sich gedulden. Und Fabian Reese, 26, tat es, ohne auch nur ansatzweise das Gefühl zu vermitteln, ein Problem damit zu haben, in der Mixed Zone des Berliner Olympiastadions für Nader El-Jindaoui hintanzustehen, der soeben sein Profidebüt für Hertha BSC absolviert hatte, im Alter von 27 Jahren.

Und wer fragen sollte, wer nun dieser El-Jindaoui ist, der Reese das Scheinwerferlicht klaute, obwohl Letzterer zwei Tore geschossen, ein weiteres vorbereitet und im Elfmeterschießen des Pokal-Achtelfinales den letzten Treffer gesetzt hatte, mithin den Hamburger SV im Alleingang rausgeworfen hatte, dem sei gesagt: Dieser El-Jindaoui ist ein sogenannter Influencer, der in der virtuellen Welt gleich mehrere Millionen sogenannter Follower hat, weil er Einblicke in sein Familienleben gibt, unter der Kennung "Die Jindaouis".

Doch siehe: Erst jetzt wähnte er sich (die im Netz mehr oder weniger live übertragene Geburt seiner Tochter ausgenommen) erklärtermaßen glücklich. Als er in der analogen Welt des Profi-Fußballs vor knapp 60 000 Menschen spielen, siegen, sich freuen und auch "Eier" zeigen durfte. So formulierte es Herthas Trainer Pal Dardai, weil El-Jindaoui im Elfmeterschießen angetreten war und sein Scherflein dazu beigetragen hatte, dass Hertha gegen den HSV nach einem 3:3 nach 120 Minuten 5:3 gewann.

HSV-Profi Meffert schämt sich dafür, gleich zweimal in letzter Sekunde einen Sieg verschenkt zu haben

Und dennoch: Wer wollte schon an Reese vorbeikommen, der an einem bitterkalten Abend im Berliner Olympiastadion mit seiner Abenteuerlust auf der Außenbahn das Stadion noch stärker anzündete als die Fans in der Ostkurve mit ihrem Feuerwerk vor Spielbeginn? Um es mal so zu sagen: Als Herthas Kapitän Toni Leistner gefragt wurde, was die Steigerung von Wahnsinn sei, antwortete er nur: "Fabi Reese." Und dessen Leistung war genau das. Wahnsinn auf höchstem Niveau.

Reese, so sagte es Leistner auch, sei derzeit "der beste Spieler der zweiten Liga", was Reese selbst, als man es ihm hinterbracht hatte, als einen "Ritterschlag" empfand: "Ich muss jetzt aufpassen, dass ich nicht rot werde", sagte er. Seine Wangen verfärbten sich tatsächlich ein wenig, aber mussten sie nicht. Nicht nach diesem Abend, an dem er Hertha zum ersten Viertelfinaleinzug im Pokal seit 2016 verholfen hatte.

Denn Reese hatte es nicht dabei belassen, den Treffer zum 1:0 zu erzielen (21.), sondern entriss dem HSV zweimal in letzter Minute die Führung. Nach den Toren von Immanuel Pherai (31.) und Laszlo Benes (43.) für den HSV hatte Reese noch das 2:2 erzielt (90.), und nachdem Ransford Königsdörffer in der Verlängerung das zwischenzeitliche 3:2 für den HSV gelungen war, kam wieder Reese daher, nach einer Spielverlagerung von El-Jindaoui übrigens. Reeses scharfe Hereingabe drückte Jonjoe Kenny zu jenem 3:3 über die Linie, das ein Elfmeterschießen unausweichlich machte.

HSV-Profi Jonas Meffert schämte sich hernach dafür, gleich zweimal in letzter Sekunde einen Sieg verschenkt zu haben ("einer Spitzenmannschaft darf so etwas nicht passieren"), HSV-Trainer Tim Walter war da entspannter. "So ist Fußball", argumentierte der Coach und lächelte (gequält?), als Herthas Trainer Dardai dozierte, wie er den absehbaren Plan des Hamburger Kollegen durchkreuzt hatte, Reese "zu doppeln", wie es in der Fachsprache heißt.

"Kriegst du nicht hin", sagte Dardai und meinte vielleicht auch: Hast du nicht hingekriegt, Tim. Das war frei von Häme: Dardai schätzt Walter. Dass Reese nicht zu halten war, hatte allerdings vor allem damit zu tun, dass sich der im Sommer aus Kiel nach Berlin gestoßene Stürmer in außergewöhnlicher Form befindet. Und sich offenkundig in Berlin wohlfühlt, sich "mit dem Klub extrem identifiziert", wie Kapitän Leistner sagte.

Dass es zurzeit so gut laufe, habe viel mit "harter Arbeit" zu tun. "Gepaart mit viel Vertrauen vom Verein, einem gewissen Flow, einem Quäntchen Glück und Spaß", sagte Reese selbst und fügte an, dass die Stimmung auf den Rängen ihr Übriges getan habe. Er fühlte sich "elektrisiert".

Die Herthaner träumen schon seit Generationen vom Pokalfinale, letztmals war mit den "Hertha-Bubis" - der damaligen zweiten Mannschaft - 1993 eine Vertretung des Klubs im Endspiel. "Jeder Fan darf und soll und muss träumen von einem ganz großen Wurf, vom ganz großen Ding", sagte Reese. Er selbst schaue bloß "von Spiel zu Spiel". Und ist damit vielleicht Herthas wichtigster Influencer.

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