Süddeutsche Zeitung

Eisschnelllauf-WM:Irgendwo im Nirgendwo

Nachdem Patrick Beckert die Bronzemedaille über 10 000 Meter knapp verpasst, gehen die deutschen Eisschnellläufer bei ihrer Heim-WM leer aus.

Von Joachim Mölter, Inzell

Patrick Beckert hatte seine Arbeit getan bei der Einzelstrecken-WM der Eisschnellläufer in Inzell, er saß auf einem Bänkchen im Innenraum der Arena und harrte der letzten zwei Athleten, die ihm eine Medaille streitig machen konnten im 10 000-Meter-Rennen. Beckert hatte am späten Samstagnachmittag 12:57,40 Minuten vorgelegt, "eine Riesenzeit", wie er später befand; nur der Niederländer Jorrit Bergsma war schneller gewesen (12:52,92). Nun machten sich dessen Landsmann Patrick Roest und der Russe Danila Semerikow auf den Weg, und Beckert rutschte auf seinem Bänkchen hin und her zwischen Hoffen und Bangen, Bangen und Hoffen.

"Das reicht nicht für mich, das schaffen sie", habe er gedacht, als die Rivalen die 7000-Meter-Marke passierten. Doch dann ließen sie nach, die Zwischenzeiten wurden schlechter, "da fängt man wieder an zu hoffen", erzählte Beckert später. Roest und Semerikow beschleunigten aber noch mal, da schwand die Hoffnung wieder. Während Roest genug Reserven hatte, um sich in 12:53,34 Minuten Platz zwei zu sichern, schwächelte Semerikow in der letzten Runde, sein Zeitpolster schwand mit jedem Schritt. Als er dann über die Ziellinie glitt, leuchteten die gleichen Ziffern auf wie zuvor bei Beckert: 12:57,40. Erst beim genauen Hinschauen auf das virtuell übereinandergelegte Zielfoto war zu erkennen, dass Semerikows Kufenspitze nach den zehn Kilometern zwei, drei Zentimeter vor der von Beckert lag. Letztlich trennten nur zwei Tausendstelsekunden die beiden Läufer, für den Russen wurden 12:57,400 Minuten angezeigt, für den Deutschen 12:57,402. "Das ist ganz bitter", fand Beckert.

"Dumm gelaufen, Pech gehabt" - dieses Fazit gilt im Grunde für alle

Der 28 Jahre alte Athlet aus Erfurt haderte freilich nicht lang mit seinem Schicksal. "Ich hatte schon zweimal das Glück bei einer WM, dass ich auf den letzten Runden die Bronzemedaille gewonnen habe", erinnerte er an die Titelkämpfe 2015 und 2017: "Diesmal war's halt andersrum." Der Frage, wo und wie er diese Winzigkeit der Zeit verloren hatte, wollte Beckert nicht nachgehen. "Die verliert man nirgendwo, und die gewinnt man nirgendwo", sagte er und fragte: "Wo liegen denn da zwei Tausendstelsekunden rum auf diesen zehn Kilometern? Die liegen irgendwo." Sein schlichtes Resümee: "Dumm gelaufen, Pech gehabt."

Das galt im Grunde für die ganze Auswahl der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) bei dieser Heim-WM, die am Sonntag ohne greifbaren Ertrag zu Ende ging. Patrick Beckert war der Letzte der drei Medaillengewinner von 2017 gewesen, die ihren Erfolg nicht wiederholen konnten. Claudia Pechstein und Nico Ihle, die WM-Zweiten von vor zwei Jahren, fielen noch weiter zurück als Beckert. Die bereits 46 Jahre alte Pechstein wurde über 5000 Meter diesmal Siebte, Ihle über 500 Meter Elfter. Nach Rang acht über 1000 Meter am Samstag staunte der 33-Jährige über die internationale Entwicklung: "Wahnsinn, dass die Sprinter in einer nacholympischen Saison noch stärker sind." Auch Sportdirektor Matthias Kulik bemerkte, dass sich die Weltelite nicht wie früher erholt im Jahr nach den Winterspielen, "im Gegenteil: In diesem Jahr sind alle noch schneller geworden".

Da fällt es dann umso mehr auf, dass die deutschen Eisschnellläufer nicht mehr hinterherkommen, dass sie nicht mehr Schritt halten können mit den Besten.

Der Niedergang hält an: Der letzte WM-Sieg datiert bereits von 2011

Der Niedergang des deutschen Eisschnelllaufs hat ja bereits vor Jahren eingesetzt, und er hält an. 2014 war die DESG erstmals nach einem halben Jahrhundert ohne Medaille von Olympischen Winterspielen nach Hause gekommen, 2018 wiederholte sie das Debakel. Dazwischen, im Winter 2016, gingen die deutschen Eisschnellläufer auch erstmals bei einer Einzelstrecken-WM leer aus; nun widerfuhr ihnen das auch noch bei Titelkämpfen im eigenen Land. Der letzte WM-Sieg datiert bereits aus dem Jahr 2011, errungen damals von der 500-Meter-Spezialistin Jenny Wolf. Zur Erinnerung: Es gab schon mal Zeiten, da haben die DESG-Frauen alle fünf vergebenen Goldmedaillen einer WM einbehalten, 2000 in Nagano und 2003 in Berlin zum Beispiel. Diesmal hatte der Verband nicht mal genug Läuferinnen dabei, um die Teamwettbewerbe im Sprint und in der Verfolgung zu besetzen.

Zumindest scheint der Tiefpunkt überwunden zu sein. Nach dem Olympia-Fiasko von Pyeongchang hatten Sportdirektor Robert Bartko und Bundestrainer Jan van Veen ihre Ämter aufgegeben, für diesen Winter musste deshalb viel improvisiert werden. Hinter den Kulissen kümmerten sich die Funktionäre darum, dass die Förderung durch den Bund im gewohnten Umfang weiterlief; der Nachwuchs-Bundestrainer Erik Bouwman koordinierte derweil mit Hilfe der Heimtrainer die Spitzensportler so gut es ging. Zu Saisonbeginn übernahm der 34 Jahre alte Kulik die Aufgaben des Sportdirektors, mit Kandidaten für den Bundestrainerjob wird verhandelt.

"Wir müssen so realistisch sein, dass wir derzeit nur einzelne Sportler haben, die in der Weltspitze mitlaufen können", hat Kulik festgestellt. Für die wenigen - namentlich Beckert, Ihle und Pechstein sowie den jungen Inzeller Joel Dufter, 23 - "wird in Richtung auf 2022 eine individuelle Planung zum Erfolg führen müssen", sagt Kulik im Hinblick auf die nächsten Olympischen Winterspiele. Erst für die darauffolgenden Spiele in den Jahren 2026 und 2030 rechnet er damit, dass die vor zwei Jahren vom Niederländer Bouwman neu ausgerichtete Nachwuchsarbeit Früchte trägt.

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Quelle:
SZ vom 11.02.2019
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