Eisschnelllauf-EM in Russland:Flug MH17 im Kopf

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Eine Macht im Eisschnelllauf: Die Niederlande (li. Olympiasiegerin Ireen Wüst) stellt Russland als Sportveranstalter in Frage. (Foto: Dennis Grombkowski/Getty Images)

Seit dem Abschuss des Passagierflugzeugs über der Ukraine wird die russische Politik in den Niederlanden besonders kritisch beäugt. Etliche Eisschnellläufer erwägen nun, die EM in Tscheljabinsk zu boykottieren. Dem Weltverband passt das gar nicht.

Von Sebastian Fischer, Berlin

Das vergangene Wochenende war eigentlich kein besonderes im Leben der niederländischen Eisschnellläuferin Ireen Wüst. Es war geradezu gewöhnlich: Dreimal ging Wüst beim Weltcup im Sportforum Hohenschönhausen an den Start, über 1500 Meter, 3000 Meter und in der Team-Verfolgung. Dreimal gewann sie. Wüst, 28, ist derzeit nun mal weltweit die schnellste unter den Eisschnellläuferinnen. Sie stieg auf das Podest, bekam Goldmedaillen, jubelte - alles ganz normal. Auch, dass die niederländischen Journalisten sie am Ausgang der Halle umringten.

Dann jedoch wurde das Wochenende für Ireen Wüst von einem gewöhnlichen zu einem besonderen. Es ging um die Europameisterschaften, die am 10. und 11. Januar in Tscheljabinsk stattfinden, der russischen Millionenstadt am Ural, nahe Kasachstan. Und Wüst, viermal Olympiasiegerin und zuletzt zweimal Mehrkampf-Europameisterin, sagte: "Vom Gefühl her ist es nicht richtig, meinen EM-Titel in Russland zu verteidigen." Sie schließe nichts aus. Denn: "Politisch gesehen stimmt in dem Land natürlich nicht viel."

In den Niederlanden besonders kritisch beäugt

Seit dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine im Juli, den mutmaßlich prorussische Separatisten verantworteten und bei dem 298 Menschen starben, davon 192 aus den Niederlanden, wird die russische Politik, die jegliche Verantwortung ablehnt, in den Niederlanden besonders kritisch beäugt. Resultat ist die Erwägung einer der beliebtesten Athleten des Landes, eine Europameisterschaft zu boykottieren.

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In Sotschi gewannen sie haufenweise Medaillen, jetzt denken die niederländischen Eisschnellläufer laut über eine Absage für die EM in Russland nach. Aus dem Gastgeberland kommt prompt eine Reaktion.

Der Vorgang zeigt einmal mehr die politische Verantwortung, die Verbänden wie dem Internationalen Eisschnelllauf-Verband ISU bei der Vergabe von internationalen Sportveranstaltungen zukommt. Doch der Vorgang zeigt auch einmal mehr die Problematik dieser Verflechtung: Die Verbände fühlen sich nicht verantwortlich. Es sei vernünftig, Sport und Politik auseinanderzuhalten, sagte der für Eisschnelllauf zuständige ISU-Vizepräsident Jan Dijkema, selbst Niederländer, dem Fernsehsender NOS. Für eine Verlegung der Europameisterschaften sehe er keinen Grund, "keinen einzigen".

Eine kritische Debatte rund um die Europameisterschaften, zu Lasten der sportpolitischen Großmacht Russland, will der Weltverband verhindern. Doch er scheint sie nicht verhindern zu können. Denn in den Niederlanden ist Wüst nicht allein, mehrere Trainer und Athleten, darunter auch der dreimalige Olympiasieger Sven Kramer, äußerten sich in den vergangenen Tagen ähnlich. Und aus Russland verlautete am Mittwoch eine kuriose Äußerung. Andrei Wahutin, Vizepräsident des russischen Eisschnelllauf-Verbandes RSU, forderte laut Sport-Informations-Dienst den Ausschluss des gesamten niederländischen Teams. Dies sei jedoch keine Option, erklärte ISU-Vizepräsident Dijkema später, ein Boykott Einzelner sei kein Grund für einen generellen Ausschluss einer ganzen Mannschaft.

Der Boykott einzelner Athleten steht jedoch weiterhin im Raum, und er wäre ein großes Problem für den Weltverband. Europameisterschaften ohne niederländische Eisschnellläufer wären ähnlich absurd wie eine Bundesligasaison ohne den FC Bayern. Bei den Winterspielen in Sotschi gewann das niederländische Eisschnelllauf-Team 23 von 32 möglichen Medaillen, darunter achtmal Gold, siebenmal Silber und achtmal Bronze. Das Fehlen von Athleten wie Wüst oder Kramer, der im Gespräch mit der Tageszeitung De Telegraaf erklärte, eine Teilnahme sei für ihn "unglaublich schwierig", würde für die ISU einen großen Imageschaden bedeuten.

Nun sind Boykottdrohungen noch kein tatsächlicher Boykott, doch der scheint in diesem Fall durchaus denkbar zu sein. Der Eisschnelllauf-Kalender ist ohnehin mit Veranstaltungen vollgepackt, und nur kurz nach den Wettkämpfen in Tscheljabinsk finden in den Niederlanden die nationalen Ausscheidungsläufe für die Weltmeisterschaften statt.

Bereits entschlossen, nicht zu fliegen

Der Sportdirektor des niederländischen Verbandes KNSB, Arie Koops, besprach die Thematik am Mittwoch nochmals mit allen Trainern, erst danach werde es erneut Stellungnahmen geben, erklärte ein Sprecher. Zuvor hatte der Verband allerdings bereits mitgeteilt, es seinen Athleten und Trainern freizustellen, ob sie an den Europameisterschaften teilnehmen. Jan van Veen, Trainer von Team-Olympiasiegerin Marrit Leenstra, hat sich bereits entschlossen, nicht nach Russland zu fliegen.

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An der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) ist die Diskussion vorbeigegangen. Der neue Sportdirektor Robert Bartko zeigte sich jedoch irritiert gegenüber den Äußerungen der ISU. "Dass Sport nicht politisch ist, das ist natürlich eine Utopie", sagte Bartko. Auch er würde es seinen Athleten freistellen, sich politisch zu äußern und entsprechend zu verhalten.

Der nächste Weltcup findet am kommenden Wochenende statt, in Heerenveen. Viele Niederländer werden wieder gewinnen, wohl auch Ireen Wüst. Doch danach wird sie wohl kaum gefragt werden.

© SZ vom 11.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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