Süddeutsche Zeitung

Eisschnelllauf:Dopingfall Pechstein: Die Widersprüche häufen sich

Der Eislaufweltverband wehrt sich gegen Angriffe aus dem Lager von Claudia Pechstein. Dokumente und Abläufe sprechen vorläufig für seine Version.

Thomas Kistner

Die Widersprüche häufen sich in der Dopingcausa Claudia Pechstein. Der Eislaufweltverband ISU sieht sich den Angriffen einer nationalen Allianz aus deutschem Verband DESG und Athletenpartei ausgesetzt - und schmettert sie bisher mühelos ab. So auch den jüngsten Vorwurf von Pechsteins Anwalt Simon Bergmann: Der versucht, das Fehlen ärztlicher Atteste für seine Mandantin für eine Bluterkrankung oder Anomalie mit einer defizitären Informationspolitik der ISU zu erklären.

"In der Anklage, die wir durch die ISU am 5.März erhielten, stand Blutdoping als einzige mögliche Ursache für die erhöhten Retikulozyten-Werte, von möglicher Erkrankung war nicht die Rede. Wir haben erst etwa eine Woche vorm Verhandlungstermin Ende Juni erfahren, dass die Möglichkeit besteht", sagte Bergmann dem Sportinformationsdienst: "Wir konnten daher bis kurz vor der Anhörung keine eigenen Untersuchungen in die Wege leiten. Wir sind alle keine Mediziner."

Dem widerspricht ISU-Chefarzt Harm Kuipers, der am 7. Februar bei der WM in Hamar die DESG-Teamleitung über die Blutwerte informiert hatte. Der Medizinprofessor von der Universität Maastricht sagte der SZ, er habe die Deutschen auf Werte hingewiesen, "die möglicherweise im Gegensatz zum Antidopingcode stehen - und dass der Grund dafür Krankheit oder Manipulation sein könnte". Die Disziplinarkommission der ISU zeigte sich in der Urteilsbegründung jedenfalls "überrascht", dass Pechstein bis eine Woche vor der Anhörung keinen Versuch unternommen hatte, ihre erhöhten Werte medizinisch zu erklären.

In ISU-Kreisen heißt es, Pechsteins Vorwurf mangelnder Information werde im Urteil selbst als Manöver entlarvt. Dort heißt es, die Beklagte und die DESG hätten durchaus "zahlreiche andere mögliche Ursachen angeführt, darunter: Angeborene Blutkrankheit, körperlicher Stress, Grippe oder andere Infekte, Nasensprays, Vitaminpräparate" sowie ein Dutzend weitere Punkte. Medizinisch argumentiert hätten auch die Parteigutachter.

Unerklärlich wirkt vor dem Hintergrund, dass Pechsteins Partei nicht Gebrauch von dem Angebot der Kammer machte, "innerhalb eines angemessenen Zeitraums" den ärztlichen Nachweis zu erbringen - und in dieser Zeit sogar wieder "trainieren und wettkämpfen zu können". Pechstein habe dies "nach einer privaten Konsultation" mit der DESG ausgeschlagen und ein Urteil verlangt.

Die ISU schweigt vorerst zu Vorwürfen, die DESG-Chef Gerd Heinze im ZDF-Sportstudio erhoben hatte. Demnach habe der Weltverband einen unsauberen Deal angeboten: Das Verfahren, so soll ISU-Chefjurist Bubnik offeriert haben, werde abgewendet, wenn die Athletin die Karriere beende. Und schon in Hamar, behauptet Pechstein, sei ein Kuhhandel vereinbart worden: "Wenn du dich krank meldest, werden wir die Öffentlichkeit nicht informieren. Und die ganze Angelegenheit kann in aller Ruhe geklärt werden", habe es da geheißen. Dazu Kuipers: "Ein Kuhhandel stimmt absolut nicht. Wenn das wahr wäre - weshalb haben wir dann jetzt einen Fall?"

Dokumente und Abläufe sprechen bisher für die Version der ISU - die ein enormes Schadensrisiko auf sich lädt, indem sie hier erstmals eine Verurteilung aufgrund der neuen Blutprofil-Regel der Weltantidopingagentur Wada traf. In die Kuhhandel-Version der deutschen Seite passt auch nicht, dass die Klage des Weltverbands schon am 5. März bei der ISU-Kammer einging.

Letzten Ausschlag für den Schritt gab der Abgleich der hohen Retikulozyten-Anteile Pechsteins vom 6./7. Februar (bis 3,54 Prozent) mit denen eines Trainingstests bei ihr elf Tage später: Da war der Wert bereits mehr als zwei Prozentpunkte runtergegangen. Experten geben den Retikulozyten-Normalwert Gesunder mit 0,5 bis 1,5 an.

Auch Zellforscher Werner Franke irritiert das rasante Absacken des hohen Wettkampf-Wertes der Athletin so kurz nach Hamar. "Das kann man wohl nur mit manipulativem Eingriff oder einer unbekannten Krankheitsform erklären. Sonst bliebe die Synergie aus mehreren Vitaminpräparaten, die zu so stark erhöhter Blutbildung führt - aber das kennt man bisher nicht."

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Quelle:
SZ vom 07.07.2009
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