Süddeutsche Zeitung

Eisschnellauf:Projekt Pechstein 3.0

Claudia Pechstein betrachtet ihren neunten Rang über 3000 Meter als guten Trainingslauf unter Wettkampf­bedingungen. Ihr Blick richtet sich schon auf ihre Paradestrecke.

Von Barbara Klimke, Gangneung

Weiter, immer weiter. Nach dem Rennen ist vor dem Rennen, und noch ehe sie die Halle verließ, hatte sie die nächste Aufgabe durchgeplant und kundgetan: Abends noch eine Einheit Strampeln auf dem Ergometer, anschließend "Regeneration", was weniger hochleistungsfixierte Menschen vermutlich als Schlaf bezeichnen würden. Dann "einen Haken dran machen" und nach vorne schauen. Einen Wettkampf, den Lauf über 3000 Meter, hatte sie da schon in den Beinen, drei weitere werden in den kommenden beiden Wochen folgen. Dann wird sie 46 Jahre alt sein, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Vor ein paar Monaten, zu Beginn der Eisschnelllauf-Saison, hat Claudia Pechstein leichthin angedeutet, dass sie sich möglicherweise überlegen könnte, auch bei den Spielen 2022 noch einmal anzutreten. Das klang damals nach einem kleinen Scherz, zumal sie selbstironisch auf ihre lange Karriere Bezug nahm und von "entsprechenden Altersleiden" sprach: Beim Aufstehen, zum Beispiel, spüre sie, dass sie nicht mehr so jung sei wie vor 20 Jahren. Inzwischen klingt das Projekt Pechstein 3.0 weniger utopisch. Seit 2011 befindet sie sich gewissermaßen in ihrer zweiten Karriere nach Ende der zweijährigen Suspendierung durch den Weltverband ISU. Dass sie endgültig zu alter Hochform auf den schnellen Kufen zurückgefunden hat, war spätestens im November klar, als sie beim 5000-m-Weltcup-Sieg in Stavanger gewonnen und die gesamte Weltelite hinter sich gelassen hatte.

Am Samstag im neuen Eisoval von Gangneung wurde sie Neunte über 3000 Meter in 4:04,49 Minuten. Dennoch fehlten nur 0,35 Sekunden zu Platz sechs in einem olympischen Rennen, das sie als "sehr guten Trainingslauf unter Wettkampfbedingungen" einordnete: "Ich bin sehr zufrieden damit." Über diese Entfernung hält sie zwar noch immer den Olympischen Rekord, sie hat eine ihrer fünf Goldmedaillen über die 3000 Meter erobert - vor 16 Jahren in Salt Lake City; dennoch betrachtet sie die Distanz heute nur mehr als "Nebenstrecke". Ihre Leidenschaft gehört dagegen jener Hatz über Eis, die die meiste Ausdauer erfordert, den stärksten Wille, die größte Disziplin und gnadenlose Härte gegen sich selbst: dem 5000-Meter-Wettkampf, den sie bei Olympia drei Mal gewann (1994, 1998 und 2002) und in dem sie sich 1992 in Albertville als Dritte erstmals Meriten erwarb. 1992, ganz richtig: vor 26 Jahren, als Bill Clinton zum US-Präsidenten gewählt wurde und die katholische Kirche Galileo Galilei rehabilitierte.

Ein Podestplatz wäre sicher eine weitere Genugtuung für Pechstein

Weiter, immer weiter: Albertville, Lillehammer, Nagano, Salt Lake City, Turin, Sotschi und nun Pyeongchang. Als Claudia Pechstein nach dem abendlichen Rennen mit einem Lächeln auf den Lippen zum Auslaufen über die Bahn kreiselte, erhielt sie fast so viel Applaus von den Rängen wie das niederländische Trio mit Carlijn Achtereekte (3:59,21), Ireen Wüst (3:59,29) und Antoinette de Jong (4:00,02), das den kompletten Medaillensatz gewann. Selbstverständlich hat sie das gefreut: "Letztendlich gibt es nicht viele, die sieben Olympische Spiele haben und in meinem Alter noch die Leistung bringen", sagte sie später vor den Mikrofonen der Medienvertreter: "Ich denke, das haben die Fans und Zuschauer hier honoriert, und das macht mich stolz." Nicht viele? "Gar keine, außer ihr", bekräftigte ihr Lebensgefährte Matthias Große, der vom Deutschen Olympischen Sportbund für das Südkorea-Team als Pechsteins Mentaltrainer akkreditiert ist und in der Mixed Zone, wie immer, einen halben Schritt hinter ihr stand.

Es gibt auch nicht viele, die zehn Medaillen bei Winterspielen gewonnen haben, dies aber ist ihr Plan für Freitag, den 16. Februar, wenn die 5000 Meter anstehen. Ihre bewährte Strategie ist darauf ausgerichtet, "die letzten Runden sehr konstant zu laufen, damit ich am Ende vielleicht einen Platz auf dem Podium abbekomme". Es wäre sicher eine weitere Genugtuung für diese Athletin, die nicht verwunden hat, dass ihr der Eislauf-Weltverband ISU ihrer Ansicht nach zwei Jahre ihrer Karriere nahm, als er sie 2009 wegen ungewöhnlicher Blutwerte zwei Jahre sperrte. Pechstein verweist auf Gutachten der Diagnose einer hereditären Sphärozytose und wehrt sich bis heute juristisch gegen die ISU.

Die Motivation, die sie aus dieser Kontroverse zieht, lässt sie weiterlaufen, immer weiter. Im Alter von 45 Jahren gibt es nichts, das sie bremst: keine körperlichen Einschränkungen und auch keine persönlichen Enttäuschungen wie die Wahl des olympischen Fahnenträgers, die sie vergangene Woche verlor.

Am Samstag, als die drei Niederländerinnen den Sieg unter sich ausmachten, ist sie gegen 23 Konkurrentinnen angetreten: Die Hälfte des Feldes war noch nicht einmal geboren, als Pechsteins olympische Karriere damals in Albertville begann.

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Quelle:
SZ vom 12.02.2018
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