Süddeutsche Zeitung

Eiskunstlauf:Don Quichote aus Japan

Yuzuru Hanyu ist der erste Eiskunstläufer seit 1952, der seinen Olympiasieg verteidigt hat - die Nachfolger stehen aber schon bereit.

Von Barbara Klimke

Durch zwei Höllen muss ein Eiskunstläufer nach der Schlusspirouette gehen: Die erste ist das Sofa, auf dem er die Wertung der Juroren vernimmt. "Kiss-and-Cry"-Bereich, wird diese Ecke an der Bande genannt, weil sich an diesem Ort bei Athleten und Trainern nach der Punktevergabe spontan die Gefühle entladen. Hölle Nummer zwei versteckt sich im sogenannten Grünen Raum ("Green Room"), der bei Olympia nur der Spitzengruppe vorbehalten ist. In diesem Fegefeuer mussten auch am Samstag in der Männerkonkurrenz die Rivalen Schulter an Schulter schmoren, bis der letzte Sprung gelandet war. Als das letzte Urteil endlich fiel, erhob sich der Spanier Javier Fernandez, 26, um seinem japanischen Kontrahenten Yuzuru Hanyu, 23, dem neuen und alten Olympiasieger, zu gratulieren, dann lagen sie sich minutenlang erlöst in den Armen. Zwei Meter entfernt stand der Trainer Brian Orser, um das Rührstück mit der Handykamera festzuhalten.

Orser, 56, trug am Samstag mal die japanische, mal die spanische, mal die südkoreanische Jacke überm Sakko, je nachdem, welcher seiner Athleten gerade das Eis betrat. Er betreut Hanyu, den besten aller Kufenkünstler in seiner Eislaufschule in Kanada, er ist auch Trainer von Fernandez, dem Bronzemedaillengewinner, und seit kurzem leitet er nebenbei noch Südkoreas jüngste Hoffnung an, den 16-jährigen Cha Jun-hwan, der am Ende Platz 15 belegte - noch vor Paul Fentz aus Berlin, der auf Rang 22 kam. Es ist Orsers Verdienst, dass sich in seinem Cricket, Skating and Curling Club in Toronto zwei rivalisierende Weltmeister, Hanyu und Fernandez, in schönster Harmonie angestachelt haben.

Hanyu folgt auf den Amerikaner Dick Button, der 1948 und 1952 Olympiasieger wurde

Er sei dem Kollegen Fernandez zu Dank verpflichtet, erklärte der schüchterne Hanyu am Samstag, als sie beide vor der Weltpresse saßen: "Wäre er nicht in Toronto gewesen, wäre ich nie nach Kanada gegangen. Und ohne ihn hätte ich das Training dort unerträglich empfunden." An schlechten Tagen, wenn er stürzte oder sich auf dem Eis quälte, habe er nur zu Fernandez herüberblicken müssen, der dann meist fantastische Salchows und Rittberger aufs Eis tupfte, um sich neu zu motivieren. Wenn Fernandez schwächelte, was auch vorkam, habe der sich an Hanyu orientiert. Sie waren nie dicke Freunde, der introvertierte Japaner und der temperamentvolle Spanier, aber sie verbindet ein intuitives gegenseitiges Verständnis, wie Fernandez erklärte: "Selbst wenn wir nicht miteinander gesprochen haben, "brauchten wir uns nur anzusehen, um uns zu verbessern."

Bei Olympia indes wird man sie gemeinsam nicht wiedersehen: Fernandez, Weltmeister 2015 und 2016 sowie sechsmaliger Europameister, hat ausgeschlossen, dass er seinen Knochen noch weitere vier Jahre harte Landungen auf dem Eis zumutet. Am Samstag präsentierte er ein originelles Programm zur Kürmusik von "Der Mann von La Mancha", aber der Don Quichote auf Kufen sprang den Vierfach-Salchow nur einfach und damit am Olympiasieg vorbei.

Hanyu räumte ein, dass er nach wenigen Wochen nicht wusste, ob er überhaupt je wieder auf Schlittschuhen würde stehen können. Im November hatte er sich bei einem Sturz im Training in Osaka nach einem verunglückten Vierfach-Lutz eine schwere Knöchelverletzung zugezogen, betroffen waren Sehnen, Knochen, der gesamte Bandapparat. Der Fuß musste wochenlang ruhiggestellt werden. Drei Wochen vor Beginn der Winterspiele ist er in Toronto das erste Mal wieder einen dreifachen Axel gesprungen. Zwei Wochen vor Beginn der Winterspiele probierte er wieder Vierfachsprünge. Und nach dem Olympiasieg räumte er ein, dass die Knöchelverletzung längst noch nicht ausgeheilt ist.

Hanyus Küren wirken immer schwerelos, als sei er, aus dem Schlaf erwacht, noch halb im Traum aufs Eis geglitten; am Samstag verzauberte er sein Publikum mit einer Kür, die einer mythischen Figur der japanischen Geschichte gewidmet ist, Abe no Seimei, einem Wahrsager der Kaiser mit fast magischen Kräften. Falls er Schmerzen spürte, wenn er nach den Luftnummern auf einer Kufe landete und dass Mehrfache des Körpergewichts auf dem Fuß lastete, dann ließ er es sich nicht anmerken im Finale in der Eis-Arena, das für ihn fast ein Heimspiel war. Die Tribünen waren voller japanischer Fahnen, Plakate mit Hanyus Maskottchen, Winnie-the-Pooh ("Pu der Bär"), wurden in die Höhe gehalten, und manche Mädchen trugen Haarreifen mit gelben Bärchenohren, um auf diese Weise ihre Bewunderung für den jungen Künstler zu bekunden. Er blieb nicht ganz fehlerfrei, aber präsentierte vier Vierfachsprünge, auch wenn er auf den riskanten Vierfach-Lutz, den schwersten von allen, verzichtete. So wurde er der erste Eiskunstläufer seit dem Amerikaner Dick Button 1948 und 1952, dem es glückte, im Männer-Wettbewerb seinen Olympiasieg zu verteidigen; und von den Rängen regnete es, wie stets bei seinen Auftritten, gelbe Stoffbären aufs Eis.

Noch also herrscht der schmale, schüchterne Magier auf dem Eis. Allerdings rückt auch ihm die Konkurrenz inzwischen auf die Kufen, sogar im eigenen Land. Der 20-jährige Shoma Uno, der in Hanyus Abwesenheit japanischer Meister wurde, hat sich am Samstag Silber erobert.

Eine solche beherzte Leistung hätte sich der Sportdirektor der Deutschen Eislauf Union, Udo Dönsdorf, auch von Paul Fentz erhofft. Der ärgerte sich selbst über einen aufgerissenen Doppelaxel. Dönsdorf, der zwei Tage zuvor das Goldmedaillenprogramm der deutschen Paarläufer bejubeln durfte, merkte kritisch an, dass es Fentz am Kampfgeist von Aljona Savchenko und Bruno Massot fehlte: "Er hatte nichts zu verlieren, da erwarte ich, dass er etwas riskiert." So hat das Eiskunstlaufen für alle seine kleinen Fegefeuer.

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Quelle:
SZ vom 19.02.2018
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