Eiskunstlauf bei Olympia:"Ich hatte kein Recht, einen Fehler zu machen"

Pyeongchang 2018 - Eiskunstlauf

Mit 15 Jahren zu Gold: Alina Sagitowa.

(Foto: dpa)
  • Die 15-jährige Eiskunstläuferin Alina Sagitowa gewinnt die erste hochpolitische Goldmedaille für die Olympischen Athleten aus Russland.
  • Fragen zur Siegerehrung ohne Nationalhymne weicht sie aus.
  • Stattdessen spricht sie über den ungeheuerlichen Druck, der auf ihr lastete.

Von Barbara Klimke, Pyeongchang

Am Ende standen sie einen Schritt auseinander, die Jüngere still, fast benommen, mit groß aufgerissenen Augen; die Ältere lehnte weinend an der Schulter der Trainerin. Die Halle war mit 12 000 Zuschauern ausverkauft, die halbe Delegation ihres Landes saß auf den Tribünen verteilt, überall auf den Ränge wurden die weiß-blau-roten Nationalflaggen geschwenkt, wurde "Russland vorwärts!" skandiert. Sagitowa zitterte, "der Druck war riesig", sagte sie: "Alle Fans haben erwartet, dass wir Athleten aus Russland ganz oben sind."

Russland gab die Order aus - und Alina Sagitowa, 15 Jahre alt, lieferte: das erste Gold für die Mannschaft der "Olympic Athletes of Russia", wie das Team während der Spiele offiziell genannt wird, weil Russlands Olympisches Komitee wegen massiver Dopingvergehen suspendiert ist.

Die Jüngste unterdrückte ihre Nervosität

Ausgerechnet die Jüngste riss sich am Freitag zusammen, unterdrückte ihre Nervosität, das Zittern, und zeigte, was sie gelernt hat bei Trainerin Eteri Tutberidse an der früheren Olympischen Reserveschule Nr. 37, die heute "Sambo 70" heißt: Fünf verschiedene Dreifachsprünge, alle in schneller Reihenfolge aufs Eis getackert. Und weil sie die erste geplante Kombination am Anfang ausgelassen hatte, hängte sie zum Schluss einfach noch einen Rittberger an den Lutz. Damit verdiente sie sich einen so hohen technischen Wert beim Preisgericht, dass auch Jewgenija Medwedjewa, 18, die Weltmeisterin aus derselben Moskauer Eislauf-Schule, sie mit dem weit anmutigeren Programm zu "Anna Karenina" nicht mehr überholen konnte.

Die russischen Fernsehreporter schüttelten den Kopf über die Reihenfolge, Medwedjewa schluchzte, denn sie hatte sich elf Mal die künstlerische Bestnote 10,0 für ihre Components verdient, aber die Kritik hielt sich in Grenzen: In der Abschlussbilanz standen Gold und Silber für Russlands Athleten; was soll man da klagen; Bronze ging an Kaetlyn Osmond aus Kanada.

Alina Sagitowa erklärte später, als sie zu dritt auf einem Podium vor der versammelten Weltpresse saßen, dass sie bereits im Kurzprogramm am Mittwoch versucht habe, die Gedanken an die geforderte Medaille zu verdrängen. Die Zensur im Kopf funktionierte nicht: "Ich wusste, ich hatte kein Recht, einen Fehler zu machen", sagte sie: "Ich musste ein sauberes Programm laufen." Zur Siegerehrung ohne Nationalhymne wollte sie sich nicht äußern, sie ist schließlich Eiskunstläuferin und weiß, wann sie spiegelglatten Boden betritt. "Das möchte ich lieber nicht beantworten", sagte sie schüchtern.

Denn dieses Gold, zwei Tage vor der Schlussfeier, war hochpolitisch. Der Kreml wünscht, dass das IOC das russische NOK pünktlich zu diesem Zeitpunkt amnestiert, und von den Athleten wird als Voraussetzung Wohlverhalten verlangt. Sollte die Delegation am Sonntag tatsächlich in voller russischer Montur und nicht mehr im neutral-weißen Outfit ins Stadion eingeladen werden, könnten gerüchteweise die beiden Eiskunstläuferinnen Sagitowa und Medwedjewa gemeinsam die Fahne tragen.

Jüngste Olympiasiegerin seit 1998

Für die zweimalige Weltmeisterin Medwedjewa aus Moskau, drei Jahre älter und welterfahrener als ihre in Ischewsk aufgewachsene Kollegin, stellte das Flaggenbekenntnis indes keine so große Herausforderung dar; jedenfalls nicht mehr als die Dreifach-Sprünge, bei denen sie sich elegant mit hoch erhobenen Armen in die Luft zu schrauben pflegt. Sie hatte zu jener Abordnung gehört, die beim IOC für eine Starterlaubnis unbelasteter Athleten warb. Als sie ihre Tränen getrocknet hatte, übernahm sie die Rolle der Chefdiplomatin: "Ich habe mehrmals gesagt, dass es egal ist, wie die Umstände sind: Die Menschen wissen, wer man ist, und heute haben wir es bewiesen", sagte sie. Damit deutete sie an, dass der vom IOC bemühte Unterschied zwischen russischen Athleten bei Olympia und olympischen Athleten aus Russland womöglich doch nur protokollarisch ist.

Außer Zweifel aber stand, dass das Duo aus der Moskauer "Sambo 70" seine Plaketten am Abend auf der Medal Plaza zu Recht entgegennahm. Zwar fehlte der Kürentscheidung der ganz große Glanz, aber die beiden jungen Russinnen blieben fehlerlos. Zudem erhöhte Sagitowa den Schwierigkeitsgrad, indem sie in der ersten Hälfte fast nur Pirouetten drehte in ihrem "Don- Quijote"-Vortrag und ihre Sprünge, zack, zack, zack, am Ende der Übung ablieferte - wenn der Konkurrenz die Luft ausgeht. Sie ist nun die jüngste Olympiasiegerin seit der Amerikanerin Tara Lipinski 1998, und nicht nur Jewgenija Medwedjewa wird sich fragen, wie sie derart junge Hüpfer in die Schranken weisen kann.

Sagitowa ist voriges Jahr noch bei den Juniorinnen mitgelaufen, sie hat nie eine Senioren-Weltmeisterschaft bestritten, aber das heißt nicht, dass sie nicht schon viel durchgemacht hat in ihrem jungen Leben. Sie zog wegen des Eiskunstlaufs aus der Republik Udmurtien nach Moskau und wurde von Trainerin Tutberidse bald wieder ausgemustert. Flehend wandten sich Alina und ihre Eltern an die Trainerin und erhielten eine neue Chance. Das sei der Tiefpunkt gewesen, sagt sie heute, sie habe damals "nicht genug gearbeitet". Kaum zurück bei Tutberidse, brach sie sich Arm und Bein.

Nicht überall hat die neue Olympiasiegerin Bewunderer. Ihre deutsche Kollegin Nicole Schott, 21 Jahre alt, die Platz 18 belegte, zählt die Russinnen nicht zu ihren Lieblingsläuferinnen: "Sie sind halt noch Kinder." Schott bevorzugt den weiblicheren, ausdrucksstarken Stil der Kanadierin Kaetlyn Osmond und ihrer Südtiroler Trainingskollegin Carolina Kostner, die Fünfte wurde. Carolina Kostner ist inzwischen 31. Ob sie sich vorstellen könne, in dem Alter auch noch zu laufen, wurde Sagitowa gefragt. Sie hat zweifelnd mit dem Kopf geschüttelt.

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