Eishockey-WM:Tritt über die Grenze

Einer gesperrt, einer verletzt: Nach der turbulenten Niederlage gegen Russland ist das deutsche Eishockey-Team für die Partie gegen die Slowakei maßgeblich geschwächt.

Von Johannes Schnitzler, Köln

Keine Daumenschrauben. Keine Schandgeige um den Hals. Nicht einmal eine kleine Eisenkugel an den Füßen. Marco Sturm hatte offensichtlich darauf verzichtet, Patrick Hager die Folterinstrumente anzulegen. Hager trug Sweatshirt und Baseballkappe, als er am Dienstag nach dem Training zur täglichen Presserunde erschien. "Er weiß selbst, dass er einen Fehler gemacht hat", sagte Bundestrainer Sturm. Hager, Mittelstürmer von den Kölner Haien, war am Vorabend beim 3:6 gegen Russland, der zweiten Niederlage im dritten WM-Spiel der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft, der entscheidende Mann gewesen. Sturm sagte: "Die Jungs hatten gute Beine, sie haben sich gut bewegt. Dann kommt das Foul, dann die Verletzung von Tobi Rieder. Danach hat sich das Spiel komplett gedreht."

Das Foul. Hagers Foul. Beim Stand von 0:1 holte der 1,78 Meter große Center den 1,80 Meter großen russischen Kapitän Sergej Mosjakin mit einem Tritt von den Beinen. Mosjakin fiel auf den Hinterkopf und wurde ins Krankenhaus gebracht. Slew-footing nennt sich das Vergehen, das automatisch eine Sperre nach sich zieht, weil die Regelhüter darin eine Verletzungsabsicht erkennen. "Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne hart spiele, auch an der Grenze", sagte Hager am Dienstag. "Aber ich hatte nicht die Absicht, ihn zu verletzen. Dass ich intelligenter in den Zweikampf gehen muss, ist auch klar." Der Zweikampf ereignete sich abseits des Spielgeschehens.

"Wenn Hagi die Bilder sieht, wird er selber erkennen, dass das nicht geht", hatte Marco Sturm nach dem Spiel gesagt und Hager ungewöhnlich deutlich kritisiert: "Da muss er sich besser benehmen." Zu Hagers Verteidigung sagte Nikita Gusew, Schütze des russischen 4:0: "Ich glaube nicht, dass die Deutschen dreckig gespielt haben. Es gab einige unglückliche Momente in diesem Spiel, und Mosjakins Verletzung war natürlich ein Schlag für uns. Aber das ist Eishockey." Der Disziplinarausschuss des Weltverbands sperrte Hager nicht nur für die Partie gegen die Slowakei an diesem Mittwoch (20.

15 Uhr), sondern auch für jene am Freitag gegen Dänemark. Damit hätte man es bewenden lassen können. Sturm bedauerte, dass er in Hager seinen "besten Bully-Spieler" verloren habe, denn wer die Bullys verliere, laufe "sofort der Scheibe hinterher"; und seinen bis dahin besten Scorer obendrein, der sowohl beim 2:1-Auftaktsieg gegen die USA als auch beim 2:7 gegen die Schweden getroffen hatte. Aber Hager hatte den Journalisten noch etwas mitzuteilen: "Ich habe mich nach dem USA-Spiel nicht als gefeierter WM-Held gefühlt, und ich fühle mich jetzt nicht als Trottel. Das ist, was Ihr daraus macht. Wir versuchen das nicht an uns heranzulassen, was Ihr von draußen schreibt." Hagers Lust am Grenzgang hatte die Mixed Zone erreicht.

IIHF Ice Hockey World Championship 2017, Cologne, Germany - 05 May 2017

Leichte Schmerzen, schwere Diagnose: Für NHL-Profi Tobias Rieder ist die Eishockey-WM nach einem Riss der Syndesmose im Fuß vorzeitig beendet.

(Foto: Steinbach/EPA/REX/Shutterstock)

Von draußen betrachtet hatten die Deutschen gegen die Russen schlicht zu viele Fehler gemacht. Sturm, per Amt und ausweislich seiner Akkreditierung ein Mann von drinnen, bestätigte das: "Wir haben zu hektisch gespielt und zu viele leichte Gegentore bekommen. Die Spieler müssen das in ihre Köpfe bekommen, dass das international nicht geht." Nach Hagers Ausschluss erhöhte die Sbornaja in Überzahl von 1:0 auf 3:0, danach war es ein anderes Spiel. "Wir haben gegen das Powerplay der Russen einfach kein Mittel gefunden", sagte Kapitän Christian Ehrhoff. "Die Top-Nationen nützen das aus." Ob Hagers Matchstrafe der Knackpunkt gewesen sei? "Sicherlich", meinte Ehrhoff. "Danach steht es 3:0." Die Kommentatoren der IIHF fanden dafür den schlichten wie prägnanten Satz: "Die russische Maschine lief wieder und sie arbeitete mit tödlicher Präzision."

Adäquater Ersatz im Angriff wird aus der NHL so schnell nicht kommen

Die nächste schlechte Nachricht musste Sturm dann am Dienstag verdauen. Die Verletzung von NHL-Profi Tobias Rieder von den Arizona Coyotes, der im ersten Drittel mit Teamkollege Brooks Macek kollidiert war, stellte sich als Riss der vorderen Syndesmose im rechten Fuß heraus. Die WM ist für den 24 Jahre alten Außenstürmer vorbei. "Vom Schmerz her ist es nicht so schlimm, aber es ist halt scheiße", sagte Pechvogel Rieder, der bereits 2016 mit einer Innenbandverletzung im linken Knie das Turnier frühzeitig abbrechen musste. Eine Operation sei diesmal nicht nötig, deshalb "bleibe ich wahrscheinlich erst mal bei der Mannschaft", sagte Rieder am Dienstag.

Ein adäquater Ersatz wird so schnell nicht zur Verfügung stehen. Die Playoff-Viertelfinals in der NHL zwischen Edmonton mit dem hochbegabten Leon Draisaitl und Anaheim mit Korbinian Holzer sowie Washington (Philipp Grubauer) und Pittsburgh (Tom Kühnhackl) gehen jeweils über die Maximaldistanz; die entscheidenden siebten Spiele finden an diesem Mittwoch statt, wenn die deutsche Mannschaft in Köln gegen die Slowakei antritt. "Das ist genau das, was sich keiner gewünscht hat", sagte Marco Sturm. Die personelle Situation sei "keine leichte". Aber er sehe Potenzial: "Wir haben noch nicht unser bestes Spiel gesehen."

Auf der Suche nach positiven Eindrücken, die sein Team nun in die Partie gegen den Weltmeister von 2002 mitnehmen könne, fand Sturm a) "die kämpferische Leistung im dritten Drittel", das die Deutschen gegen nachlassende Russen 3:1 für sich entschieden; b) die Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr, als das DEB-Team gegen die Slowaken 0:1 zurücklag und noch 5:1 gewann - "danach lief es für uns"; und, natürlich, c) die Rückkehr von Kapitän Christian Ehrhoff. Der ehemalige NHL-Spieler hatte in den ersten beiden Spielen verletzt pausiert. Gegen die Russen war er noch nicht eine Sekunde auf dem Eis gewesen, als es schon 0:1 stand, beim Schießen hielt sich der Offensivverteidiger merklich zurück. Vier Tage lang hatte er kein Eistraining mitmachen können. Aber "wichtig ist, dass es mir heute nicht schlechter geht als vorher", sagte der 34-Jährige am Dienstag. "Ich spiele weiter." Bevor er ging, bedankte er sich. Benehmen: vorbildlich.

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