Eishockey-WM:Nur noch mit Rechenschieber

Latvia v Germany - 2018 IIHF Ice Hockey World Championship

Satz mit X: Nach der Niederlage gegen Lettland ist Deutschland um Niklas Treutle bei der Eishockey-WM so gut wie ausgeschieden.

(Foto: Martin Rose/Getty Images)

Die Nationalmannschaft verliert in Dänemark ihr viertes Spiel und hat fast keine Chance mehr auf das Weiterkommen.

Von Johannes Schnitzler, Herning

Vielleicht ist es übertrieben, ein ganzes Turnier auf eine einzige Szene zu verdichten. "Wir standen alle schon auf der Bank, weil wir wussten: Jetzt knallt's", sagte Dominik Kahun. Der Nationalstürmer meinte jene Szene, als Marc Michaelis und Marcel Noebels gegen Lettland einen Konter liefen, zwei deutsche Angreifer gegen einen lettischen Abwehrspieler. Es war die größte Chance zur Führung für das deutsche Team in seinem fünften Spiel bei der Eishockey-Weltmeisterschaft.

Ein paar Sekunden später war der Puck im Tor. Und Lettland führte. Michaelis hatte den richtigen Moment für das Abspiel verpasst. Im direkten Gegenzug zeigten die Letten, wie man einen Konter ausspielt. Über Rodrigo Abols und Rudolfs Balcers landete der Puck bei Ronalds Kenins, der keine Mühe hatte, die Scheibe ins Tor zu schießen (37.). "Das ist bitter", sagte Kahun, "das war eine hundertprozentige Chance". Andererseits: "Wir hatten noch genug Chancen, das Spiel zu drehen." Aber kaum waren beide Mannschaften zum dritten Drittel zurück auf dem Eis, erhöhte Guntis Galvins auf 2:0 für die Letten, durch einen wohl noch minimal abgefälschten Schuss, der an Niklas Treutles Fanghand unglücklich vorbei flatterte. Im letzten Abschnitt waren gerade einmal 15 Sekunden gespielt.

Bundestrainer Sturm: "Das war mit Abstand unser bestes Spiel."

Die Deutschen versuchten danach alles. Aber als Andris Dzerins das 3:0 (48.) erzielte, nahm die erste WM-Niederlage für die Mannschaft des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) gegen Lettland seit 2012 Formen an. Kahun verkürzte zwar noch (49.), nach einer ebenfalls sehenswerten Kombination über Yasin Ehliz und Leon Draisaitl. Aber mehr gelang den Deutschen nicht. Aus dem erhofften Sieg mit drei Punkten, der die Chancen auf das Viertelfinale halbwegs stabil am Leben erhalten hätte, war eine 1:3 (0:0, 0:1, 1:2)-Niederlage geworden, die vierte im fünften Spiel.

"Eine Führung wäre sicher gut gewesen", sagte Verteidiger Yannic Seidenberg. Die Mannschaft von Bundestrainer Marco Sturm zeigte am Samstag zur ungewohnten Mittagszeit ihre bis dahin beste Leistung bei diesem Turnier. "Wir waren endlich mal im Forecheck in unserem System, haben wenige Chancen abgegeben", sagte Seidenberg. Alle seien "voll im Spiel" gewesen. "Dann kriegst du gleich am Anfang im dritten Drittel so ein unglückliches Tor. Das ist sehr frustrierend." Sturm sagte: "Das tut schon weh. Die Jungs haben alles gegeben, das war mit Abstand unser bestes Spiel. Aber wir sind wieder nicht zwingend genug vor das Tor gekommen. In manchen Szenen hat sich einfach die Unerfahrenheit bemerkbar gemacht."

College-Spieler Michaelis, 22, ist neben Manuel Wiederer (San José Barracuda/AHL), Markus Eisenschmid (Laval Rocket/AHL) und Frederik Tiffels (Wheeling Nailers/ECHL) einer von vier Spielern aus den Jahrgängen 1995 und 1996, die Sturm aus den amerikanischen Minor Leagues in den WM-Kader berief. Gegen Lettland zeigten sie, was sich der Bundestrainer von ihnen versprach: Tempo. Sie zeigten auch, was ihnen noch fehlt: "Wir müssen manchmal cleverer agieren", sagte Sturm. Wie Michaelis, der früher passen hätte können. Wie Wiederer, dem in aussichtsreicher Position die Scheibe vom Schläger sprang. "Wenn man international mit 30 Schüssen rausgeht, ist das nicht zu wenig", sagte Yannic Seidenberg, 34, einer der wenigen verbliebenen Routiniers im Team. "Wir haben eine gute Leistung gezeigt. Aber wie so oft im Turnier war sie eben nicht gut genug, um die engen Spiele zu gewinnen." Sein Bruder, DEB-Kapitän Dennis Seidenberg, 36, sah es ähnlich: "Wir haben genügend Chancen gehabt, aber die Verwertung hat gefehlt. Die Letten haben für die zweite Chance gearbeitet und sie dann rein gemacht."

Sturm scheitert wohl erstmals in seiner Amtszeit vor dem Viertelfinale

Einen Vorwurf machte den Youngsters niemand. Sie sprangen in die Lücken, die Sturm nach dem Olympia-Überraschungserfolg von Pyeongchang und dem DEL-Finale zu füllen hatte. Allein 15 Silbermedaillen-Gewinner von Südkorea fehlen ihm in Dänemark. "Die Mannschaft hat sich erst finden müssen", sagte Sturm, "und es geht ja auch immer besser, kein Vorwurf an die Jungs." Man dürfe nicht vergessen, dass "wir in fünf Spielen drei Mal gepunktet haben", erinnerte er.

Allerdings war mit der Ausbeute von fünf Punkten aus fünf Spielen das Viertelfinale vor den abschließenden Partien gegen Finnland am Sonntag (20.15 Uhr) und Kanada (Dienstag, 16.15 Uhr) nur noch auf dem Rechenschieber zu erreichen. Sturm, der zum ersten Mal in seiner dreijährigen Amtszeit ein Viertelfinale zu verpassen droht, nahm es nüchtern: "Auch morgen ist wieder ein Arbeitstag für uns. Wir wollen hier noch mal sechs gute Drittel spielen und lernen." Ernsthaft glaubt auch er nicht mehr an die Runde der besten Acht bei diesem Turnier. "Wir haben viele Absagen gehabt", sagte Dennis Seidenberg. "Aber die Jungen haben gut gespielt. Wir müssen so weiter machen, dann werden wir besser für die Zukunft."

Dominik Kahun, ebenfalls Jahrgang 1995, der nach drei Meisterschaften mit dem EHC Red Bull München im Sommer in die NHL zu den Chicago Blackhawks wechseln wird, sagte: "Es ist bitter, dass wir die beiden ersten Spiele gegen Dänemark und Norwegen im Penaltyschießen verloren haben. Die hätten wir auch gewinnen können. So hatten wir immer Druck, dass wir Punkte holen müssen."

Es ist, wie Dennis Seidenberg es sagte: Die Chancen waren da. Nur geknallt hat es zu selten.

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