Eishockey-WM:Ein Land dreht durch

Die als "schlechteste finnische Mannschaft aller Zeiten" verabschiedete Auswahl um Kapitän Marko Anttila kehrt als Weltmeister nach Hause zurück - und wird zum Vorbild für das deutsche Team.

Von Johannes Schnitzler, Bratislava/München

Für Marko Anttila begann der Montag mit Glückwünschen. Punkt null Uhr ließen ihn seine engsten Freunde hochleben und versicherten ihm, er sei der beste Mann. Die Stimmen dieser Menschen waren heiser, ihr Atem roch nach alkoholischen Getränken. Insofern dürfte der 34. Geburtstag von Marko Anttila an diesem Montag ein 34. Geburtstag wie Tausende andere auf diesem Planeten gewesen sein. Was Anttilas Feiertag einzigartig machte, waren die Zahl seiner Gratulanten - rund 5,5 Millionen, zufällig exakt so viele, wie Finnland Einwohner hat - und das Geschenk, das er tags zuvor erhalten hatte: Anttila feierte als neuer Eishockey-Weltmeister in sein 35. Lebensjahr hinein.

Mit zwei Toren im Finale gegen Kanada hatte Anttila Finnland am Sonntag zum dritten Titel nach 1995 und 2011 (auch damals in Bratislava) geschossen. 3:1 nach 0:1 besiegten die Finnen den 26-maligen Weltmeister, ein Team ausschließlich aus NHL-Profis, und beendeten das Turnier exakt so, wie sie es begonnen hatten - mit einem 3:1-Sieg gegen Kanada. War der erste Erfolg noch eine dicke Überraschung, kam der Triumph im Endspiel einem Wunder gleich. Das Team von Trainer Jukka Jalonen war in der Heimat als "schlechteste finnische Mannschaft aller Zeiten" verabschiedet worden, ein Team der Namenlosen, ohne NHL-Profi. Und Marko Anttila war der Kapitän dieser Gurkentruppe.

Zehnmal Kanada: Alle WM-Endspiele in diesem Jahrtausend

2000 Tschechien - Slowakei 5:3

2001 Tschechien - Finnland n.V. 3:2

2002 Slowakei - Russland 4:3

2003 Kanada - Schweden n.V. 3:2

2004 Kanada - Schweden 5:3

2005 Tschechien - Kanada 3:0

2006 Schweden - Tschechien 4:0

2007 Kanada - Finnland 4:2

2008 Russland - Kanada n.V. 5:4

2009 Russland - Kanada 2:1

2010 Tschechien - Russland 2:1

2011 Finnland - Schweden 6:1

2012 Russland - Slowakei 6:2

2013 Schweden - Schweiz 5:1

2014 Russland - Finnland 5:2

2015 Kanada - Russland 6:1

2016 Kanada - Finnland 2:0

2017 Schweden - Kanada n.P. 2:1

2018 Schweden - Schweiz n.P. 3:2

2019 Finnland - Kanada 3:1

Anttila, 2,04 Meter groß, auf Schlittschuhen noch zehn Zentimeter größer, ist kein filigraner Techniker, kein Torjäger. Wer ihn ohne Helm sieht, glaubt den jüngeren Bruder des deutschen Basketballers Dirk Nowitzki (2,13 Meter) vor sich zu haben: die gleichen blonden Haare, das gleiche Lächeln, der gleiche schlaksige Auftritt. Bei seinen beiden ersten WM-Turnieren erzielte Anttila insgesamt zwei Tore; in der Slowakei gelang ihm in sieben Vorrundenspielen kein einziger Treffer. Dann aber erzielte er im Viertelfinale gegen Titelverteidiger Schweden 89 Sekunden vor Schluss das 4:4 (die Finnen gewann nach Verlängerung 5:4), traf im Halbfinale gegen die als übermächtig geltenden Russen zum 1:0-Sieg und schoss im Finale das 1:1 und das entscheidende 2:1 (den dritten Treffer markierte Harri Pesonen). "Er ist jetzt ein Nationalheld", sagte Verteidiger Petteri Lindbohm: "Das ganze Land dreht durch."

Sport Bilder des Tages Eishockey WM Finale Finnland ist Weltmeister Finland won the title and cele

Finnlands Spieler Marko Anttila (links) und Atte Ohtamaa lassen Coach Jukka Jalonen hochleben.

(Foto: Peter Schatz/imago)

Von den Leuten daheim unterschätzt zu werden, "das hat uns eine Menge Energie gegeben", gab Anttila zu. Ihre Devise sei gewesen: "Denen zeigen wir es", verriet Lindbohm. Ihr Erfolgsgeheimnis: "Wir hatten vielleicht nicht die besten Einzelspieler, aber wir waren das beste Team. Jeder hat für den anderen gespielt." Der deutsche Bundestrainer Toni Söderholm, der vor dem Turnier ebenfalls viel Kritik für seine Auswahl eingesteckt und dann die beste WM-Vorrunde der deutschen Eishockey-Geschichte hingelegt hatte, freute sich um so mehr für seine Landsleute: "Man kann sagen, dass ich ein Fan von der Geschichte bin: Eine Mannschaft, die nicht alle Top-Spieler an Bord hat, holt den Titel. Sie haben aus Talenten eine Einheit gemacht, die über ihre Grenzen hinausgewachsen ist." Die Suomi-Story sei ein Vorbild für alle Mannschaften: "Es hat gezeigt, was alles möglich ist, und es zeigt auch, dass man sich nicht zu viele Gedanken über Einzelspieler machen muss." Söderholms Team hatte den Finnen die einzige Niederlage nach regulärer Spielzeit zugefügt (4:2), war dann aber im Viertelfinale gegen Tschechien (1:5) ausgeschieden. Schade, fand Söderholm: "Es wäre mehr drin gewesen."

Marko Anttila dagegen konnte sein Glück kaum fassen. "Es war eine unglaubliche Reise", sagte der Stürmer von Jokerit Helsinki. "Er hat einen langen Weg hinter sich, bis die Leute gemerkt haben, was er kann und wie wertvoll er sein kann", lobte Söderholm. Anttila, der Finnenkönig: Dem Mann, der von sich selbst sagt, dass er lieber im Hintergrund steht, dürfte das künftig schwer fallen. Nicht nur wegen seiner 2,04 Meter, sondern auch wegen 5,5 Millionen durchgedrehter Fans.

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