Süddeutsche Zeitung

Eishockey-WM in Riga:Mit Löwenherz zum Vierteljahrhundert-Sieg

Zum ersten Mal seit 25 Jahren schlägt Deutschland Kanada bei einer Eishockey-WM. Auf dem Weg zum Viertelfinale könnte sogar noch prominente Verstärkung aus der NHL kommen.

Von Christian Bernhard

Seine Spieler dürften Fehler machen, hat Eishockey-Bundestrainer Toni Söderholm vor dieser WM gesagt. Und doch, doch, sie machen schon noch Fehler. Etwa, als Nico Krämmer im zweiten Drittel auf der Bank beklatscht und beklapst wurde für einen geblockten Schlagschuss, den Tom Kühnhackl mit dem Körper abgefangen hatte, der sich nun vor Schmerzen krümmte. Im letzten Abschnitt war es anders herum: Nun krümmte sich Krämmer und wurde dafür von Kühnhackl getätschelt. Er wisse nicht, wie viele Schüsse er geblockt habe, sagte Nationalstürmer Krämmer nach der Partie: "Ich habe nicht mitgezählt."

Insgesamt 35 Blocks standen für das Team zu Buche am Ende eines Abends, den das deutsche Eishockey nicht so schnell vergessen wird. "Ich habe wahrscheinlich noch nie ein Spiel gesehen, in dem eine Mannschaft so viele Schüsse geblockt hat", sagte Bundestrainer Söderholm. Sein Team habe "alles komplett weggearbeitet - das war unglaublich". Durch seine aufopferungsvolle Spielweise hat das Team des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) am Montagabend bei der Weltmeisterschaft in Riga (Lettland) Außergewöhnliches geleistet: den Weltranglistenersten Kanada 3:1 bezwungen und mit dem dritten Sieg im dritten Spiel die Tabellenführung in der Vorrundengruppe B verteidigt.

Und mehr noch: Erstmals seit 25 Jahren gelang einer deutschen Auswahl wieder ein WM-Sieg gegen das Mutterland des Eishockeys. Mit welchem "Spirit" die Mannschaft gespielt habe, sei wirklich sehr schön anzuschauen gewesen, sagte Söderholm. Seine Spieler hatten sich füreinander geopfert. Auch das hatte der Finne vorab versprochen.

"Wir haben wirklich ein Löwenherz", sagte der abgekämpfte, aber glückliche Torhüter Mathias Niederberger, der nach seinen 39 Paraden zum Spieler des Abends auf deutscher Seite gewählt worden war. Das DEB-Team, das in den ersten zwei Partien spielerisch überzeugt hatte, glänzte gegen Kanada vor allem kämpferisch. WM-Debütant Maximilian Kastner sagte in der ersten Euphorie, man habe "die beste Mannschaftsleistung gezeigt, die es gefühlt je gegeben hat".

Nach den Toren von Stefan Loibl (11.) und Matthias Plachta (12.) zum 2:0 innerhalb von nur 38 Sekunden schlüpften die deutschen Spieler in ihre "Arbeitsschuhe" - auch das wie von Söderholm vor dem Turnier proklamiert. Alleine im Mitteldrittel überstand das DEB-Team zweimal zwei Minuten mit zwei Mann weniger auf dem Eis. Ein Sinnbild dafür war die Szene in Minute 40, als Kühnhackl der Schläger brach und der 29-Jährige sich trotzdem furchtlos in den nächsten Schuss warf. Ob mit dem Knie, dem Unterschenkel oder dem Hinterteil: Die Deutschen versperrten jeden Schussweg. Stürmer Marcel Noebels fand schlicht "alles" beeindruckend: "Wenn wir über Teamgeist und Leidenschaft sprechen, dann war das der Tag, an dem man gesehen hat, dass wir absolut eine Einheit sind." Keiner sei sich "für irgendwas zu schade", sagte Kastner: "Genau das brauchen wir."

Dass Kahun aus Amerika kommt, ist "eine Hausnummer", sagt Verteidiger Holzer

Aus der deutschen Einheit stach Mathias Niederberger hervor. Der Berliner Torhüter plagte sich schon im Mitteldrittel mit Krämpfen im Oberschenkel, hielt aber wie seine Vorderleute durch. Niederbergers Ruhe strahlte auf die komplette Auswahl aus. "Das hat die Mannschaft enorm gepusht", sagte Söderholm. Niederberger, der nur von Nick Paul (19.) überwunden wurde, habe "die Schüsse absorbiert", lobte Kapitän Moritz Müller. "Es gibt Gründe, warum wir deutscher Meister geworden sind und warum wir heute gewonnen haben", sagte Niederbergers Klubkollege Noebels: "Das lag viel an seiner Präsenz." Der überhaupt erst dritte deutsche WM-Sieg über Kanada (wobei jener aus dem Jahr 1987 nachträglich sogar aberkannt wurde), erfolgte gegen eine junge Mannschaft, die zwar mit vielen Spielern aus der nordamerikanischen Profiliga NHL nach Riga gereist ist, allerdings keine prominenten Namen dabei hat.

Deutschlands größter Name wurde dann am Dienstag plötzlich zum Thema. Leon Draisaitl war mit den Edmonton Oilers, bei denen auch Dominik Kahun spielt, kurz zuvor aus den NHL-Playoffs ausgeschiede: In der ersten Runde gegen die Winnipeg Jets setzte es im vierten Spiel die vierte Niederlage für Deutschlands Sportler des Jahres und sein Team - doch während Kahun nach Riga reist, erklärte Draisaitl seinen WM-Verzicht. "Für Leon Draisaitl tut es mir leid, dass er diesmal nicht dabei sein kann, dafür haben wir vollstes Verständnis", sagte der Präsident des Deutschen Eishockey-Bundes, Franz Reindl, am Dienstagabend. Kahun muss in Einzel- und dann in Team-Quarantäne, er kann erst am siebten Tag nach seiner Ankunft ins Geschehen eingreifen. Realistisch wäre also ein Einsatz vom Viertelfinale an, das Deutschland fest im Visier hat. "Mit seiner Schnelligkeit, seinen technischen Fähigkeiten und der NHL-Erfahrung kann er unserem Spiel noch einmal ein besonderes Element geben", sagte Bundestrainer Toni Söderholm zur Anreise Kahuns. Verteidiger Korbinian Holzer, der den Sieg gegen Kanada mit einem Schuss ins leere Tor perfekt gemacht hatte (58.), freut sich: "Es ist schon eine Hausnummer", sagte er, "solche individuelle Klasse dabei zu haben."

Für das DEB-Team steht nach einem Tag Pause am Mittwoch (15.15 Uhr) das vierte Gruppenspiel gegen Kasachstan auf dem Plan. Die Kasachen sind ein unangenehmer Gegner, der zum Auftakt mit Siegen gegen Gastgeber Lettland und Weltmeister Finnland überraschte, bevor es am Dienstag ein 0:3 gegen die USA gab. Niederberger sprach von einem "sonderbaren Turnier", bei dem alles möglich sei. Allzu wagemutig wollte er sich aber auch nach dem Coup gegen Kanada nicht äußern. "Wir schauen nicht so weit voraus", sagte er, "wir sind bodenständig."

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