Süddeutsche Zeitung

Deutschland schlägt Italien bei der Eishockey-WM:Ein Spiel wie eine Wiesn-Gaudi

Durch einen 9:4-Sieg gegen Italien qualifiziert sich das DEB-Team für das WM-Viertelfinale. Trotz kleiner Aussetzer beweist die Mannschaft von Bundestrainer Söderholm ihre Reife. Und profitiert von zwei Neuankömmlingen.

Von Johannes Schnitzler, Helsinki

Lukas Reichel hat eine bewegte Woche hinter sich. Am vergangenen Sonntag flog er mit seinem Klub, den Rockford Ice Hogs, aus den Playoffs der American Hockey League. Es folgten die sogenannten Exit Meetings, in denen man ihm vermutlich, wenn er so tüchtig weiterarbeite, für die kommende Saison weitere Einsätze in der Premiumliga NHL in Aussicht stellte; in dieser Spielzeit waren es elf für die Chicago Blackhawks, deren Organisation er angehört. Anschließend: PCR-Test, Flug zur Eishockey-WM - so dass Reichel am Donnerstag rechtzeitig in Helsinki war, um vor dem Spiel gegen Dänemark den Feueralarm in der Helsingin Jäähalli zu erleben. "Das war natürlich ein kleiner Schock", erzählte er am Freitag. "Aber ich würde sagen: 1:0 gewonnen, ganz solide. Darauf kann man aufbauen."

Am Freitag sollte der Stürmer Reichel, der am Dienstag zwischendurch noch 20 Jahre alt geworden war, dann erstmals selbst auf dem Eis stehen, gegen Italien, wie auch der ebenfalls nachgereiste Verteidiger Leon Gawanke (Manitoba). "Ich fühle mich richtig gut, besser als gedacht", sagte er nach dem morgendlichen Training. "Ich denke, Leon ist auch ziemlich fit. Wir sind ready to go." Das kann man so sagen. Die Deutschen überrannten Italien im ersten Drittel förmlich, am Ende hieß es 9:4 (4:0, 2:1, 3:3). "Der Start war wichtig", sagte Bundestrainer Toni Söderholm. "Das war eine saubere Leistung. Wir haben Reife gezeigt." Der Platz im WM-Viertelfinale ist damit fix.

Nach den schweren Aufgaben zu Turnierbeginn gegen Kanada (3:5) und den Olympia-Dritten Slowakei (2:1), den hart erarbeiteten Siegen gegen Frankreich (3:2) und Dänemark warteten gegen Italien und Kasachstan, den 16. und 15. der Weltrangliste, zwei vermeintlich kleinere Herausforderungen. Aber genau darin liege eine Gefahr, hatte Söderholm gewarnt: zu glauben, dass das Gewinnen eine Selbstverständlichkeit geworden sei. "Wir werden alles geben müssen", mahnte er. Reichel und Gawanke ersetzten Korbinian Holzer und Leo Pföderl, die erfolgreiche Berliner Angriffsreihe der WM 2021 mit Pföderl, Reichel und Marcel Noebels muss noch auf ihre Wiedervereinigung warten. Im Tor stand diesmal wieder Mathias Niederberger, Philipp Grubauer durfte nach seinem Shutout gegen Dänemark durchschnaufen; auf der Bank nahm erstmals bei dieser WM der Wolfsburger Dustin Strahlmeier Platz.

Ein Prosit der Gemütlichkeit! Na gut, einer geht noch rein!

Der Stadion-DJ gab sein Bestes, um die Atmosphäre anzuheizen, und spielte beim Warm-up der beiden Teams feinsten italienischen Disco-Stampf wie am mittleren Wochenende auf dem Oktoberfest, im Volksmund auch bekannt als "Italiener-Wochenende". Die Deutschen erwiesen sich aber recht bald als humorlose Stimmungstöter, jedenfalls für die Partylaune der Italiener. WM-Debütant Alexander Karachun überraschte Davide Fadani im Tor der Azzurri mit einem Schuss aus der Drehung (6.), Verteidiger Kai Wissmann versuchte sich ohne nennenswerte Gegenwehr als Stürmer und schloss ein Solo elegant mit der Rückhand durch Fadanis Beine ab (7.), Yasin Ehliz fälschte einen Schuss zum 3:0 ab (14.). "Wir haben so entschlossen gespielt, aber auch mit einer gewissen Lockerheit", lobte Söderholm. Die deutschen Fans sangen sich allmählich in Wiesn-Laune.

Für Fadani war die Festa früh beendet. Wie ein Jugendlicher, der beim ersten Bierzelt-Besuch drei Maß auf Ex getrunken hat, schlich er vom Eis. Ersatzmann Justin Fazio blieb immerhin 4:44 Minuten trocken, dann überwand ihn Daniel Fischbuch zum 4:0 (18.). Italien drohte der Blitz-Absturz.

Wer nach Fehltönen suchte, fand: nichts. Reichel hatte seine erste Vorlage geliefert, Gawanke mit harten, präzisen Pässen das Spiel nach vorne beschleunigt. "Sie waren beide vom ersten Wechsel an sehr stark", bestätigte Söderholm. Die Deutschen hatten überaus süffige erste 20 Minuten serviert.

Im zweiten Drittel zogen sie erst bei Fünf gegen Fünf ein Powerplay auf - sie sollten ja alles geben - und dann ein echtes. Sie brauchten 27 Sekunden, bis Noebels Reichel frei vor dem Tor fand (26.). Das 5:0 war eine Berliner Kombination wie aus dem Eisbären-Bilderbuch. Allerdings revanchierten sich die Italiener zügig. Kleiner Prestigeerfolg: Für das 5:1 brauchten sie sogar nur 26 Sekunden (26.). Mit diesem respektvollen Abstand schienen sich beide Teams erst einmal anfreunden zu können. Warum sich unnötig schubsen? Ein Prosit der Gemütlichkeit! Na gut, einer geht noch, einer geht noch rein: Daniel Fischbuch erhöhte mit seinem zweiten Treffer auf 6:1 (35.), die feine Vorlage spendierte wieder Reichel.

Es ging weiter wie beim Bierfest: Irgendwann verschwimmen alle Konturen. Auch Ehliz kippte einen zweiten Treffer nach (47.), dann war wieder Karachun dran (43.), 8:1, Italien brauchte jetzt dringend eine Auszeit und setzte danach zwei Treffer (48./50.), ein weiterer wurde wegen Abseits aberkannt. In der deutschen Abwehr fielen ein paar Hemmungen, es ging nun hin und her wie bei einer Festzeltrauferei. Samuel Soramies traf (58.), Alex Petan auch noch (60.), damit war das 9:4 aus dem Vorjahr exakt reproduziert. Und als der Tag gerade so wunderschön war, dass er nie vergehen dürfte, war Schluss.

"Die Gegentore im letzten Drittel, das war ein bisschen blöd", sagte Reichel, der zum Spieler des Abends gewählt wurde. Aber Söderholm gewährte Absolution: "Das ist normal, wenn es 8:1 steht." Sollte Frankreich am Samstag gegen Dänemark verlieren, könnte die deutsche Mannschaft ohne jeden Druck in ihr vorletztes Gruppenspiel am Sonntag (15.20 Uhr) gegen Kasachstan gehen. Das Viertelfinale bei dieser WM dürfte ihr nicht mehr zu nehmen sein. "Wir müssen jetzt schlau sein und schauen, wer eine Pause braucht oder angeschlagen ist", sagte Söderholm. Den Samstag gab er weitgehend frei. "Es ist die letzte Chance, Kraft zu tanken für den Endspurt."

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