Sie haben viel über das Momentum gesprochen in dieser Saison in Edmonton, und über die Fähigkeit, die Blender Triumph und Niederlage nicht überzubewerten; also nach Siegen nicht zu überdrehen oder bei Rückstand nicht in Panik zu geraten. Die Oilers haben die Balance gefunden in dieser Saison der nordamerikanischen Eishockeyliga NHL; sie haben sowohl den schlechten Saisonstart (zehn Niederlagen in den ersten zwölf Partien) als auch die 16-Siege-Serie zu Jahresbeginn gelassen hingenommen.
In den Playoffs haben sie jeweils Rückstände im Viertelfinale (2:3 gegen Vancouver) und im Halbfinale (0:2 im vierten Spiel gegen Dallas bei 1:2 in der Serie) gedreht. „Ruhig bleiben“, mahnte der deutsche Angreifer Leon Draisaitl bei Siegen und Niederlagen, er ist ja ohnehin mit dem Gemüt eines buddhistischen Mönchs gesegnet.
Stanley Cup Finals:Hoffen auf ein Wunder
Die Edmonton Oilers mit Leon Draisaitl liegen in der Finalserie gegen die Florida Panthers 0:3 zurück – so einen Rückstand hat seit 82 Jahren kein NHL-Team mehr aufgeholt. In Kanada drücken nun sogar Konkurrenten Edmonton die Daumen.
Nur: Wer kann schon ruhig bleiben angesichts eines 0:3-Rückstandes in der Finalserie? Das hat in der NHL-Geschichte erst ein Team gedreht, die Toronto Maple Leafs – vor 83 Jahren. Natürlich waren die Oilers nicht erfreut darüber, es herrschte aber weder Totenstille noch Wut noch Panik in der Umkleide nach der dritten Partie, sondern trotzige Ruhe.
Die bewusste Konditionierung auf die innere Balance hatte das Team genau auf diesen Moment vorbereitet: 8:1 gewannen sie die vierte Partie, 5:3 die fünfte in Florida, weshalb die Panthers den Titel nicht in heimischer Halle feiern konnten, sondern abermals ins Flugzeug steigen müssen, nach Edmonton – Entfernung: 4132 Kilometer. Sie waren bereits beim ersten Flug vor einer Woche verspätet – Fliegen in den USA ist in etwa wie Bahnfahren in Deutschland. Es wird die Hölle los sein in Edmonton, und plötzlich scheint das Phänomen Momentum, diese launische Diva der Sportpsychologie, tatsächlich auf Seiten der Oilers zu sein.
Die Oilers niemals abschreiben! Das ist nicht Trotz, sondern Fakt
„Ruhig bleiben“, sagte nun auch Draisaitls kongenialer Partner Connor McDavid, der seit dem Rückstand in Hochform ist – was in seinem Fall bedeutet: Raketenantrieb. Ein Tor und drei Vorlagen gelangen ihm in Spiel drei, zwei Treffer und zwei Zuspiele während der Partie am Dienstag. Den Rekord für die meisten Playoff-Vorlagen (derzeit 32) hat er bereits gebrochen, er jagt zudem den für die meisten Scorerpunkte. 42 hat er bereits, fünf fehlen zum Gleichstand mit, natürlich, Wayne Gretzky, dessen Rekord aus dem Jahr 1985 stammt. Wenn alles gut läuft für die Oilers, hat McDavid noch zwei Spiele dafür.
Natürlich sind persönliche Rekorde egal, auf der anderen Seite: Die Oilers brauchen diese Punkte von McDavid, so wie die Punkte von Draisaitl. Der ist ganz offensichtlich nicht im Vollbesitz seiner Kräfte seit dem Viertelfinale gegen Vancouver, doch darüber redet man nicht im Eishockey; zur Not spielt man mit gebrochenen Knochen, wenn es irgendwie geht. Erst nach dem Ende der Saison wird man erfahren, was los war.
„Ruhig bleiben“, sagte McDavid also, und es ist erstaunlich, wie wenig sich die Stimmung in der Kabine von jener nach der Niederlage im dritten Spiel unterschied – denn sie wussten: Es hätte anders laufen können: 3:0 hatten sie geführt und 4:1, durch Geniestreiche von McDavid, im Schlussviertel hieß es plötzlich nur noch 4:3, und das Momentum war wieder auf Seiten der Panthers. Edmonton brachte den Vorsprung aber über die Zeit, auch durch grandiose Paraden von Torhüter Stuart Skinner, der danach sagte und dabei so klang, als würde er die Nachrichten vorlesen: „Man darf die Oilers nicht abschreiben.“ Botschaft: Das ist kein Trotz, sondern Fakt.
Worauf sollte man achten beim sechsten Spiel am Freitagabend? Auf McDavid freilich, und darauf, wie die Oilers auf Vorsprung und Gegentore reagieren – und auf Strafzeiten. In den letzten beiden Spielen haben sie jeweils in Über- und Unterzahl getroffen, und in diesen Augenblicken zeigen sie den Panthers dann doch gerne, dass das Momentum ganz auf ihrer Seite ist.