Süddeutsche Zeitung

Eishockey:Im Eislabor

Die nordamerikanische Profiliga NHL nimmt ihren Betrieb wieder auf, und der überragende Deutsche Leon Draisaitl jagt mit den Edmonton Oilers die größte Trophäe: den Stanley Cup.

Von Johannes Schnitzler

Man müsste noch mal nachsehen. Mehr als 300 Kandidaten stehen auf der Liste für den diesjährigen Friedensnobelpreis. Nach allem, was man weiß, ist auch der Name der Klimaaktivistin Greta Thunberg in diesem im Grunde geheimen Verzeichnis. Der Name Leon Draisaitl fehlt. Aber ganz ausschließen kann man es nicht, dass der Eishockeyspieler Draisaitl am Ende auch diesen Preis noch erhält.

2020 war bislang Draisaitls Annus mirabilis. Als erster Deutscher ist er in der nordamerikanischen Profiliga NHL mit der Art Ross Trophy für den fleißigsten Punktesammler der Hauptrunde ausgezeichnet worden. Die Saison ist seit dem 12. März unterbrochen wegen der Corona-Pandemie. Von diesem Samstag an wird sie unter vielfältigen Vorsichtsmaßnahmen fortgesetzt, und die Edmonton Oilers, Draisaitls Team, treffen in der Qualifikationsrunde für die Playoffs auf die Chicago Blackhawks. Zuvor wurde bekannt, dass der Kölner Leon Draisaitl, 24, auch Anwärter auf den Ted Lindsey Award der Eishockey-Spielergewerkschaft NHLPA ist sowie auf die Hart Memorial Trophy, den Preis der NHL-Berichterstatter für den wertvollsten Spieler. "Beide Nominierungen sind eine große Ehre, weil sie aus zwei verschiedenen Richtungen kommen", sagte Draisaitl. In dieser Woche wurde er zum Botschafter der Laureus Stiftung Sport for Good ernannt, und zuletzt schickte sein Team ihn auch noch ins Rennen um die King Clancy Trophy: Was wie eine Reverenz an das Dschungelbuch klingt, ist die Auszeichnung für den Spieler, "der Führungsqualitäten auf und neben dem Eis am besten demonstriert und einen bemerkenswerten humanitären Beitrag in seiner Gemeinde geleistet hat".

Egal, ob Draisaitl einen dieser Preise holt oder alle oder gar keinen: Mit 110 Scorerpunkten (43 Tore, 67 Vorlagen) aus 71 Partien war er der überragende Spieler der verkürzten Hauptrunde. Nach amerikanischen Maßstäben ist er ein Superstar. Nun aber beginnt die Saison nach mehr als vier Monaten Pause von Neuem: Was war, zählt nicht mehr. Dass die Oilers, die seit 1990 auf einen Titel warten, nach Ansicht vieler Experten trotzdem so nahe am Gewinn des Cups sind wie nie mehr seit den Zeiten von Wayne Gretzky, der Legende, mit der Edmonton in den Achtzigern viermal triumphierte, liegt nicht nur an Draisaitl, sondern auch an Connor McDavid, 23, den viele für den besten Spieler seiner Zeit halten, auch wenn Draisaitl (und nur Draisaitl) in der Scoring-Statistik vor ihm lag. McDavid kam auf 97 Punkte. Im einzigen Test vor dem Neustart besiegten die Oilers am Dienstag Calgary 4:1, und McDavid erzielte zwei Treffer. "Es sieht so aus, als ob er über die Pause noch schneller geworden wäre", sagt Teamkollege Tyler Ennis: "Er fliegt." Auch Draisaitl punktete, er gab eine Vorlage.

Und dann spielen die Oilers ja auch noch zu Hause. Edmontons Rogers Place ist neben der Scotiabank Arena in Toronto einer von zwei Knotenpunkten ("Hubs") außerhalb der USA, an denen die NHL die 24 verbleibenden Teams versammelt hat. In Edmonton spielen die zwölf Klubs der Western Conference, in Toronto die der Eastern Conference. Auch das Finale zwischen den beiden Conference-Siegern findet in Edmonton statt. Mit dem Einzug der Mannschaften und ihrer Entourage in ihre "Bubbles" (Blasen) begann am Sonntag Phase IV des Plans "Return to Play".

Hub-Bubbles: Das klingt zeichentrickmäßig. Aber der NHL ist es mit ihren Vorsichtsmaßnahmen ernst. Alle Spieler und alle Mitglieder des Stabs werden täglich auf das Virus getestet, jeder erhält einen Gesundheitspass, überall wird auf Distanz und Einhaltung der Hygieneregeln geachtet. Die Liga hat sogar 1000 Trainingspucks und 12 000 Handtücher bereitgestellt.

Die Blasen sind so komfortabel eingerichtet, wie es ein Leben in der Kaserne eben zulässt, mit Spielekonsolen, Billardtischen, Tischtennisplatten. Andererseits: Bis zum Finale im Oktober leben die Spieler bis zu drei Monate unter Laborbedingungen. Das erfordert spartanische Disziplin, die nicht jeder mit so leichten Gedanken angeht wie Jack Campbell, 28, von den Toronto Maple Leafs. Solange die Hotelzimmer ein Bett hätten, sei für ihn alles in Ordnung, sagte der Torhüter: "Ich liebe es, ein kleines Schläfchen zu halten."

Die Sorgfalt scheint sich auszuzahlen. Von den 4256 Tests, die vom 18. bis 25. Juli an den mehr als 800 Profis durchgeführt wurden, fiel keiner positiv aus, in den zwei Wochen zuvor waren es bei rund 7000 Tests nur zwei (die Ergebnisse blieben anonym). Mit dem gleichen Aufwand organisiert die Liga die Übertragungen der Spiele, Zuschauer sind in den Hallen nicht zugelassen. 32 statt wie üblich 20 Kameras werden jede Regung einfangen, jedes Team bekommt eine eigene Farbchoreografie und eine spezielle Tormusik. Heimvorteil? "Wir kennen die Halle und das Eis", sagt Draisaitl, "aber die Zuschauer und die Atmosphäre fehlen natürlich."

Was Draisaitl wirklich fehlt, ist der Titel. "Wenn ich jetzt sage, dass die Einzeltrophäen mich nicht interessieren würden, wäre das gelogen. Aber es geht mir im Endeffekt um den Stanley Cup", sagte er dem Online-Portal Sportbuzzer: "Der Titel mit der Mannschaft zählt mehr."

Vor allem dann, wenn er den in der Heimat immer wieder strapazierten Vergleich mit Basketball-Veteran Dirk Nowitzki abschütteln will. Nowitzki gewann 2011 mit den Dallas Mavericks die Meisterschaft in der NBA. Wie Satou Sabally, die in dieser Woche in der Frauen-Basketballliga WNBA debütierte, und andere deutsche Sportler, die in Nordamerika ihr Geld verdienen, wird Draisaitl ständig am "German Wunderkind" Nowitzki gemessen. Anders als Sabally, 22, die eine klare politische Botschaft hat (gegen Rassismus, für Gleichberechtigung), beschränkt sich Draisaitl, der "German Gretzky", auf eine Rolle als Botschafter seines Sports. "Es ist eine große Ehre für mich, so gesehen zu werden von Medien oder wem auch immer", sagt Draisaitl über den Nowitzki-Vergleich. Zu Nowitzki fehlt ihm noch dessen im Lauf der Jahre erworbene Selbstironie und Souveränität im Umgang mit der Öffentlichkeit. "Natürlich würde ich mich darüber freuen, wenn mein Bekanntheitsgrad in Deutschland steigen würde. Die Trophäen würden sicher helfen", sagt er. Wenig würde seine Popularität so befördern wie der NHL-Titel. Ein Nobelpreis, vielleicht.

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Quelle:
SZ vom 01.08.2020
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