Süddeutsche Zeitung

Eishockey:Gloria!

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Die St. Louis Blues gewinnen erstmals den Stanley Cup - dabei hatten sie nach einem Drittel der Hauptrunde in der Eishockey-Liga NHL auf dem letzten Platz gelegen.

Von Jürgen Schmieder, Boston/Los Angeles

Die St. Louis Blues haben den Stanley Cup gewonnen. Natürlich gibt es kaum einen öderen Satz als jenen, der lediglich das reine Ergebnis einer Sportveranstaltung beinhaltet. Betrachtet man jedoch die Saison dieser Franchise, die seit der Gründung vor 52 Jahren nie einen Titel gewonnen und nach einem Drittel der regulären Spielzeit die wenigsten Punkte der nordamerikanischen Eishockeyliga NHL hatte, wird deutlich, dass es keinen unerhörteren Satz geben kann als diesen: Die St. Louis Blues haben den Stanley Cup gewonnen.

Wer verstehen möchte, wie die Blues das geschafft haben, der sollte den ersten Abschnitt der entscheidenden Partie gegen die Boston Bruins am Mittwoch betrachten. Die Bruins bestimmten in der eigenen Halle das Geschehen, sie spielten die Blues schwindelig, kreierten zahlreiche Torchancen. Die Zahlen belegen das, am Ende des Drittels lautete die Schussbilanz: 12:4 für Boston. Torchancen: 9:2. Spielstand allerdings: 0:2, und die Blues hatten sich diese Treffer eher erarbeitet denn erspielt, sie fielen nach Puckeroberung im gegnerischen Spieldrittel und nach einem Konter unter Zuhilfenahme eines schlafmützigen Wechselfehlers der Bruins.

"Wir versuchen, die Dinge so einfach wie möglich zu gestalten: verteidigen, Puck nach vorne schießen, hinterherlaufen", sagte Craig Berube während des ersten Spielabschnitts zum TV-Sender NBC. Berube ist noch immer nur Interimstrainer der Blues, nach der Entlassung von Mike Yeo nach einem schrecklichem Saisonstart hatten die Verantwortlichen Berube nur befördert, um die verloren geglaubte Saison ehrenvoll zu Ende zu bringen; erst danach wollten sie einen neuen Cheftrainer verpflichten. Es folgten zunächst noch schlimmere Zeiten: Im Dezember prügelten sich Robert Bortuzzo und Zach Stanford im Training, drei Wochen später folgte der Absturz ans Tabellenende.

"Ich weiß nicht, ob wir jetzt hier wären, wenn wir im Januar nicht ganz unten gewesen wären", sagt Berube nun. Sie hatten damals, weil es eh schon egal war, den 25 Jahre alten Torwart Jordan Binnington vom Nachwuchsteam aus San Antonio zu den Profis geholt, um ihn auf spätere NHL-Einsätze vorzubereiten. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: In seiner ersten Partie blieb Binnington ohne Gegentor, mit ihm zwischen den Pfosten schafften die Blues eine Bilanz von 25 Siegen bei nur fünf Niederlagen und einem Unentschieden, sie stellten einen Vereinsrekord für die meisten Erfolge nacheinander auf (elf) und qualifizierten sich für die Playoffs.

Was dann passierte, waren Überraschungen - die einen in der NHL allerdings nicht überraschen sollten: Zum ersten Mal in der Geschichte scheiterten beide Finalteilnehmer der Vorsaison (Las Vegas Golden Knights und Washington Capitals) sowie die Gewinner der vier Divisionen, aus denen sich die NHL zusammensetzt, bereits in der ersten Runde. Tampa Bay Lightning, der dominierenden Mannschaft der regulären Spielzeit, gelang nicht ein Sieg in der Best-of-seven-Serie. Barry Trotz, der sich nach der Meisterschaft mit Washington in der vergangenen Saison nicht auf einen neuen Vertrag hatte einigen können und Trainer bei den New York Islanders wurde, sagte: "Mich überrascht nichts mehr, weil ich weiß, dass mich ohnehin alles überraschen wird."

Die NHL ist aufgrund einer Gehaltsobergrenze (in dieser Saison: 83 Millionen Dollar pro Team) und einer Gehaltsuntergrenze (58,8 Millionen Dollar) sowie der Regeln bei der Wahl der Nachwuchsspieler ohnehin eine ausgeglichene Liga. Rechnet man die Rekordsaison von Tampa Bay (62 Siege) heraus, betrug nach 82 Spielen der Abstand zwischen dem Playoff-Teilnehmer mit der zweitbesten (Calgary Flames, 107 Punkte) und dem mit der schlechtesten Bilanz (Colorado Avalanche, 90) 17 Punkte.

In den Playoffs entscheiden oftmals Kleinigkeiten, die gar nicht mal so viel damit zu tun haben, ob sich einer besonders geschmeidig über das Eis bewegt oder den Puck besonders hart schießen kann. "Ich glaube, dass vor dem Ende der Wechselfrist am 25. Februar einige Spieler große Angst hatten, fortgeschickt oder gar entlassen zu werden - darunter auch ich", sagt Blues-Kapitän Alex Pietrangelo: "Das ist nicht passiert, und das hat uns als Gruppe stärker werden lassen."

Sie zelebrierten dieses Image der Outsider mit den grauen Bärten (das Durchschnittsalter der Blues liegt bei knapp 28 Jahren), die in den Playoffs aber so was von nichts verloren hatten. In der Kabine lief stets der 80er-Jahre-Hit "Gloria" von Laura Branigan, die nach einer durchzechten Nacht im Januar angesichts der schlechtesten Bilanz die inoffizielle Vereinshymne wurde. Und die Spieler hielten sich an das Credo von Interimstrainer Berube, die Dinge möglichst einfach zu halten: Die Spielweise der Blues erinnerte bisweilen an eine Mischung aus britisch-rustikalem Kick-and-rush-Fußball und dem unvergessenen Satz des Schalker Fußball-Philosophen Rolf Rüssmann: "Wenn wir schon nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt."

Die Blues ließen kaum eine Gelegenheit aus, ihre Gegner gepflegt (und bisweilen unerlaubt hart) vom Eis zu subtrahieren, sie wählten simple Spielzüge, und natürlich wussten sie, dass sie im Tor einen hatten, der den Bruins vorgekommen sein muss wie ein Walross mit Oktopus-Tentakeln. Im entscheidenden siebten Spiel hielt Binnington die ersten 32 Schüsse, im dritten Spielabschnitt verhinderte er den Anschlusstreffer mit einer Bewegung, die einem Bodenturner zur Ehre gereicht: Er lag bereits geschlagen auf dem Bauch, streckte sein rechtes Bein jedoch irgendwie nach hinten und stoppte den Puck.

Am Ende einer Playoff-Serie, so verlangt es eine 115 Jahre alte Tradition in dieser Sportart, da begegnen sich die Kontrahenten auf dem Eis und schütteln einander die Hände. Die Sieger an diesem Abend wurden angeführt von einem Torwart, der noch vor wenigen Monaten bei einem zweitklassigen Team gespielt hatte. Den Stanley Cup reckte ein Kapitän in die Höhe, der im Februar noch heißer Kandidat für ein Tauschgeschäft mit einem anderen Verein gewesen war, und in der Umkleidekabine lief danach "Gloria" von Laura Branigan. Deshalb, weil es einem sonst keiner glaubt: Die St. Louis Blues haben den Stanley Cup gewonnen.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2019
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